Rechter Terror – traurige Kontinuität in München
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Text: Quentin Lichtblau
Wer am achten Jahrestag den Ort des Anschlags am Olympia-Einkaufszentrum besucht, erkennt die Orte direkt wieder: Die Hanauer Straße, auf der die Reporter bei ihren Liveschalten standen. Den McDonald’s, in den der Attentäter seine potenziellen Opfer per Facebook-Post lockte und in dem er am 22.7.2016 um 17:51 Uhr das Feuer eröffnete. Den U-Bahn-Eingang, die Tiefgarage und das Einkaufszentrum selbst, an dem er weitere Leute erschoss. Und das Parkdeck, auf dem er sich mit einem Anwohner auf einem angrenzenden Balkon unterhielt.
Heute, acht Jahre später, steht auf der Hanauer Straße eine in schwarzen Stoff gehüllte Bühne. Es erklingen Lieder, die Angehörige mit ihren getöteten Kindern, Ehefrauen und Verwandten verbinden, vom anatolischen Sänger Tanju Okan, dem Rapper Bushido oder dem Griechen Giorgos Margaritis. Der OEZ-Attentäter hatte gezielt Jagd auf Menschen mit Migrationshintergrund gemacht, seine Opfer hatten etwa Eltern aus dem Kosovo oder der Türkei, sie waren Muslime, Sinti oder Roma. Die Tatsache, dass es sich bei dem Anschlag um rechtsextremen Terrorismus handelte, ist allerdings bis heute nicht in allen Köpfen angekommen.
Ein paar Wochen vorher sitzen fünf Menschen im Kulturzentrum Zirka auf einem Podium: Dass sie eine Gemeinsamkeit haben, sieht man ihnen auf den ersten Blick gar nicht an. Ein Mann in seinen Fünfzigern trägt Bürstenhaarschnitt, daneben zwei jüngere Frauen, eine in Seidenbluse, die andere in Jeans und T-Shirt – und eine ältere Dame, auf deren Oberteil das Gesicht eines jungen Mannes abgebildet ist: Giuliano Kollmann. Die Frau ist seine Großmutter Gisela Kollmann. Beim Anschlag am 22.7.2016 tötete der Attentäter im Olympia-Einkaufszentrum den 19-jährigen Giuliano. Auch der Bruder der Frau in Seidenbluse, Dijamant Zabergja, war unter den Todesopfern. Der Vater von Mandy Boulgarides, der Frau in Jeans, wurde 2005 vom NSU erschossen. Und Robert Höckmayr, der Mann in der Runde, überlebte 1980 als 12-Jähriger schwer verletzt den rechtsextremen Terroranschlag aufs Münchner Oktoberfest. Zwei Geschwister starben am Tatort.
In keiner anderen deutschen Stadt sind seit 1945 so viele Menschen Opfer von rechtsextremen Anschlägen geworden.
Kurz vor dem achten Jahrestag des Anschlags am Olympia-Einkaufszentrum, sitzen die vier Angehörigen hier nun als Zeugen eines traurigen Kontinuums: In keiner anderen deutschen Stadt sind seit 1945 so viele Menschen Opfer von rechtsextremen Anschlägen geworden. Dass auch der Anschlag am Olympia-Einkaufszentrum als ein solcher Anschlag gilt, ist vielen bis heute nicht bewusst; vielmehr wurde er lange als "Amoklauf" einsortiert.
Am 22.7.2016 hatte der spätere Attentäter David S. auf Facebook andere Nutzer aufgefordert, in die McDonald’s-Filiale am Olympia- Einkaufszentrum zu kommen: "Kommt heute um 16 Uhr Meggi am OEZ ich spendiere euch was wenn ihr wollt aber nicht zu teuer". Dort tötete er mehrere Jugendliche und verletzte einen weiteren schwer. Vor dem Restaurant schoss er auf weitere Passanten und Autos, tötete zwei Menschen in der Nähe einer Tiefgarage, einen an der U-Bahn-Haltestelle. Sein letztes Opfer war Dijamant Zabergja, den er im Olympia-Einkaufszentrum erschoss. Erst nach zweieinhalb Stunden konnte der Täter gestellt werden, er erschoss sich schließlich selbst.
Nachdem die Öffentlichkeit vor dem Hintergrund der Anschläge des "Islamischen Staat" und der iranischen Eltern des Attentäters zunächst von einem islamistischen Attentäter ausgegangen war, spielten Polizei und Politik die Tat herunter: Mobbingerfahrungen des Täters seien "tatauslösend" gewesen, er habe als nach Rache sinnender Einzelgänger gehandelt. Diese Einschätzung wurde bereits früh kritisiert, da zahlreiche Anhaltspunkte auf eine rassistische Motivation hindeuteten: Der Attentäter war in einer psychotherapeutischen Behandlung durch Hakenkreuz-Malereien und das Zeigen des Hitlergrußes aufgefallen und hatte sich in rechtsextremen Chatgruppen mit Namen wie "Anti-Refugee-Club" aufgehalten.
Erst im Oktober 2019 stuften die bayerischen Sicherheitsbehörden die Tat als politisch motiviert ein.
Außerdem hatte er den Ermittlern – wahrscheinlich bewusst – ein "Manifest" auf seiner Festplatte hinterlassen, in dem er von "ausländischen Untermenschen" und "Kakerlaken" schrieb, die er "exekutieren" werde. Inspiriert worden war er dabei offenbar vom Utøya-Attentäter Anders Breivik: Der OEZ-Attentäter setzte seinen Plan am fünften Jahrestag der Ereignisse in Norwegen um, sein Whatsapp-Profilbild war ein Bild von Breivik. Das Bundesamt für Justiz bewertete die tödlichen Schüsse bereits Anfang 2018 als extremistische Tat. Das bayerische Innenministerium zögerte jedoch, diese Bewertung zu übernehmen, was Kritik von SPD, Grünen und Vertretern der Hinterbliebenen hervorrief. Insgesamt untersuchten vier Expertengutachten das Motiv des Attentäters – drei stützten die These eines rechtsextremen Anschlags, eines stufte den Vorfall als Amoklauf ein.
Erst im Oktober 2019 stuften die bayerischen Sicherheitsbehörden die Tat als politisch motiviert ein. Die Rede vom "Amoklauf" hatte sich aber bereits im Gedächtnis der Stadt verfangen: Ein Jahr nach dem Anschlag hatte die Stadt am Tatort ein Mahnmal mit einer Inschrift enthüllt: "In Erinnerung an alle Opfer des Amoklaufs vom 22.7.2016". Erst 2020 wurde die Inschrift geändert, sie erinnert nun an "alle Opfer des rassistischen Attentats".
"Der Erinnerungsort, der bedeutet mir nicht viel", sagt Gisela Kollmann bei der Diskussion im Zirka Anfang Juli. Er sei eilig von der Stadt in Auftrag gegeben worden, eine ausführliche Rücksprache mit den Angehörigen habe es nicht gegeben. "Es war gut gemeint", sagt wiederum Margareta Zabergja, "das sollte alles ganz schnell gehen, aber wir waren noch so traumatisiert, dass wir dann erst im Nachhinein für die neue Inschrift kämpfen konnten."
Dass rechtsextreme Anschläge erst Jahre oder gar Jahrzehnte später als solche erkannt werden, ist nicht ungewöhnlich: Hinter dem Oktoberfest-Attentäter von 1980 vermutete man zunächst linken Terrorismus, dann einen Einzeltäter, trotz der Vernetzung des Attentäters mit der berüchtigten "Wehrsportgruppe Hoffmann". Beim fast vergessenen Brandanschlag auf einen Nachtclub in der Münchner Schillerstraße im Jahr 1984 ermittelte man anfangs in Untergrundkreisen des Rotlichtmilieus – bis sich die Täter der Neonazigruppe "Ludwig" per Bekennerschreiben zur Tat bekannten.
Weil das der blinde Fleck von Deutschland ist, das will man nicht sehen, das will man nicht hören.
Auch Mandy Boulgarides, deren Vater 2005 durch den NSU ermordet wurde, regt es im Fall des OEZ-Attentats auf, "dass wir uns immer noch dafür rechtfertigen müssen, dass es eben nicht nur eine Einzeltat war." Nach dem Mord an ihrem griechischen Vater hatte die "Abendzeitung" zunächst ohne jeden Beleg getitelt: "Türken-Mafia schlägt wieder zu". Die Behörden hätten in alle möglichen Richtungen ermittelt, von Glücksspiel bis Menschenhandel, erzählt Boulgarides, nur nicht in Richtung rechtsextremer Terror: "Weil das der blinde Fleck von Deutschland ist, das will man nicht sehen, das will man nicht hören."
Es hat immer dieselbe Systematik.
Robert Höckmayr, der Überlebende des Oktoberfest-Anschlags, sieht nicht nur bei den Ermittlungen, sondern auch im Umgang mit Hinterbliebenen wie ihm eine traurige Unbelehrbarkeit – bis heute: "Es hat immer dieselbe Systematik", sagt Höckmayr, "wir, die Hinterbliebenen und Überlebenden, unsere Anliegen und Bedürfnisse, bekommen kaum Aufmerksamkeit." Die mangelnde Empathie für die Angehörigen, die mit ihren Einwänden kein Gehör finden, und jahrelang für eine angemessene Entschädigung kämpfen müssen, beschäftigt alle vier auf dem Podium. Höckmayr, der für eine angemessene Entschädigung immer wieder vor Gericht ziehen musste, hat erst 2023 erneut Klage gegen den Freistaat Bayern eingereicht, 43 Jahre nach dem Anschlag. Er forderte einen finanziellen Ausgleich für die beruflichen Nachteile, die er durch das Wiesn-Attentat in Kauf nehmen musste.
Auch ein würdiges Gedenken sei lange nicht möglich gewesen: Da die Stadt an den Jahrestagen des Oktoberfest-Attentats lange keinen ausreichenden Polizeischutz zur Verfügung gestellt habe, erzählt Höckmayr, hätten die Angehörigen ihre Gedenkveranstaltung neben betrunkenen Wiesn-Besuchern abhalten müssen, die an die Wände des Mahnmals urinierten. Rückhalt finden die Angehörigen der Opfer zumindest untereinander: Sie haben sich in der Initiative "München OEZ erinnern" organisiert, betreiben einen Erinnerungsraum am Münchner Marienplatz – und stehen auch mit den Angehörigen der Anschläge in Hanau oder Halle in Kontakt. Seit den beiden Anschlägen dort und der beharrlichen Erinnerungsarbeit und Vernetzung der Hinterbliebenen findet langsam auch hinsichtlich des Anschlags am OEZ ein Umdenken statt. Er wird – zumindest von Teilen der Öffentlichkeit – nicht mehr als isolierte Tat gesehen, sondern als das, was er ist: ein Glied in einer traurigen Kette rechtsextremer Gewalt, Polizeiversagens, falscher Verdächtigungen und tiefer Wunden bei all jenen, die zurückbleiben.
Am achten Jahrestag sieht man viele der Gesichter aus dem Zirka wieder, sowohl die Angehörigen als auch die jungen Aktivist*innen der Gruppe "München OEZ erinnern". Gisela Kollmann steht vor der Bühne, neben ihr Dieter Reiter, der zweite Bürgermeister Dominik Krause, außerdem die Grünen-Politikerin Katharina Schulze. Auch Robert Höckmayr, der Hinterbliebene des Oktoberfest-Attentats, ist gekommen. Vertreter der bayerischen Staatsregierung oder gar Bundespolitiker sucht man vergebens. Die erste Rede des Tages kommt von Oberbürgermeister Reiter: "Erinnert euch immer an diesen Tag vor acht Jahren", sagt er, gerichtet an die Münchner Bürgerinnen und Bürger, "erinnert euch an die Menschen, deren Leben hier gewaltvoll ausgelöscht wurde." Er verkündet, dass die Stadt den Angehörigen nun auch einen Raum in Moosach für ihre Erinnerungsarbeit zur Verfügung stelle. Die Namen und Gesichter der Opfer müssten im "kollektiven Gedächtnis der Stadt" verankert werden. Dann liest er acht Namen vor. Im Publikum entsteht ein Murmeln. Ein Name fehlt. Reiter bemerkt seinen Fehler: "Guiliano habe ich vergessen", sagt er, "kann nicht sein."
Mit "Offene Wunde" entwickeln Tunay Önder und Christine Umpfenbach, basierend auf Gesprächen mit den Angehörigen, einen Theaterabend der vom (Weiter-)Leben der Angehörigen und Opfer des rechtsextremistischen Anschlags am OEZ erzählt.
Durch Gespräche mit Rechtsanwält*innen, Politiker*innen und Mitarbeiter*innen von Sicherheitsbehörden machen Önder und Umpfenbach das gesellschaftliche Umfeld sichtbar, in dem Rassismus gedeiht und immer wieder tödlich endet. "Offene Wunde" erinnert an die Ermordeten, die weiterleben, solange wir sie nicht vergessen.
"Offene Wunde" - ein dokumentarisches Theaterstück über das Attentat am OEZ von Tunay Önder und Christine Umpfenbach ist ab dem 24. April 2025 auf Bühne 2 des Münchner Volkstheaters zu erleben.