"Als Autor habe ich das Gefühl, auf der Seite meiner Figuren stehen zu müssen"
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Interview: Julia Rothhaas
Herr Kehlmann, im Mittelpunkt Ihres Romans "Lichtspiel" steht Georg Wilhelm Pabst, einer der bedeutendsten Filmregisseure der Weimarer Republik. Was hat Sie an dieser Figur gereizt?
DANIEL KEHLMANN: Eigentlich wollte ich etwas über das Milieu des deutschen Stummfilms der 1920er-Jahre schreiben. Beim Lesen einiger Standardwerke tauchte dann immer wieder der Name G. W. Pabst auf. Obwohl ich nur wenig Material über ihn fand, stand bald für mich fest: Das ist, was ich wirklich erzählen möchte, diese vollkommen aberwitzig umgedrehte Emigrationsgeschichte. Er hatte es 1933 ins Exil geschafft und konnte in Hollywood Fuß fassen, doch 1939 kehrte er freiwillig nach Nazideutschland zurück – obwohl er gar kein Nazi war.
Pabst ist nicht die erste historische Figur, die Sie in Ihren Romanen auftauchen lassen. Wie denkt man sich in jemanden hinein, wenn es kaum Informationen gibt?
KEHLMANN: Über Pabst fand ich tatsächlich nur wenige Dokumente, in der Deutschen Kinemathek und im Bundesarchiv. Trotzdem hat er in meinem Kopf bald ein Eigenleben bekommen. Als Autor habe ich immer das Gefühl, auf der Seite meiner Figuren stehen zu müssen, selbst wenn es wie im Fall Pabst nicht unbedingt einfach ist nachzuvollziehen, was die Person eigentlich antreibt. Für die Nebenfiguren gilt diese Offenheit hingegen nicht immer: Leni Riefenstahl schildere ich in meinem Roman als Karikatur.
Wie ist das mit dem Alltag im Dritten Reich, den Sie ja auch beschreiben: Fiel es Ihnen leicht, sich da einzufühlen?
KEHLMANN: Auch wenn das in dem Zusammenhang seltsam klingen mag, bereitet es mir große Freude, mich in solche, mir fremde Situationen hineinzudenken und etwa von der ganz und gar unerträglichen Welt des Dritten Reichs zu erzählen. Es gibt in meinem Buch beispielsweise eine Szene, in der sich ein paar Damen der Gesellschaft treffen, um über ein zunächst unscheinbares Buch zu diskutieren. Eine normale Diskussion ist aber nicht möglich, weil alles durchtränkt ist von der Angst, in einem totalitären Staat etwas Falsches sagen zu können. Über einen solchen Lesezirkel gibt es keine Quellen, so eine Szene muss man schlichtweg erfinden.
Die britische Schriftstellerin Zadie Smith, mit der Sie befreundet sind, hat über "Lichtspiel" gesagt: "Endlich machst du mal was mit Nazis." Kommt man als Schriftsteller in Deutschland um das Thema einfach nicht herum?
KEHLMANN: Ich glaube nicht, dass es ein Thema gibt, das man zwingend behandeln muss. Vielmehr hat man als deutschsprachiger Schriftsteller qua Kultur und Sprache einfach Zugang zu diesem ungeheuer bedrängenden, aber auch erzählenswerten Themengebiet. Ich hatte schon immer das Gefühl, dass ich darüber eines Tages schreiben könnte, sofern ich einen Zugang für die richtige Geschichte finde – allerdings nicht im Sinne einer moralischen Aufgabe. Ich hätte jedoch auch kein schlechtes Gewissen gehabt, wenn ich das nicht gemacht hätte. Denn als Schriftsteller muss man gar nichts. Außer versuchen, gute Bücher zu schreiben.
Herr Stückl, Sie bringen "Lichtspiel" in der Spielzeit 2024/25 auf die Bühne des Münchner Volkstheaters. Was reizt Sie an dieser Inszenierung? Warum jetzt?
CHRISTIAN STÜCKL: Ich habe das Buch wahnsinnig gerne gelesen. Nach der Lektüre stand schnell für mich fest, dass ich daraus ein Stück machen möchte. Für die Theateradaption muss man ja eine ganz eigene Sprache finden, das Ganze muss auf der Bühne schließlich dialoghafter werden als im Roman, in dem allerdings schon viele tolle Dialoge stecken. Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit Themen zum Dritten Reich, deswegen stellt sich mir die Frage nach dem "Warum jetzt?" also nicht. Gleichzeitig tauchen heute leider wieder die gleichen Fragen auf, die auch das Buch stellt: Welche Verantwortung hat man als Mensch, als Kunstschaffender in einer Gesellschaft, die immer weiter ins Extreme abdriftet?
Ich stelle mir oft die Frage, wie ich selbst damals reagiert hätte. Natürlich hofft man, dass man verantwortungsvoll umgegangen und gewesen wäre. Aber wenn ich ehrlich bin, weiß ich es nicht.
In "Lichtspiel" erklärt G. W. Pabst, dass er nichts anderes machen will als Kunst – "unter den Umständen, die man eben vorfindet". Also dreht er in Nazideutschland Filme und blendet dafür Grausamkeiten aus, wie etwa die Tatsache, dass KZ-Insassen als Statisten bei Drehs zum Einsatz kommen. Daher die Frage, die Christian Stückl gerade aufgeworfen hat: Welche Verantwortung hat man als Künstler? Welche Kompromisse darf man eingehen?
KEHLMANN: Das ist in jedem Kunstbereich anders. Als Schriftsteller muss schon sehr viel passieren, dass man nicht mehr so schreiben kann, wie man will. Da muss die Polizei immer wieder das Haus durchsuchen und die Manuskripte mitnehmen. Oder aber sie nimmt gleich den Schriftsteller mit und sperrt ihn ein. Bei Regisseuren sieht das anders aus, denn allein kann ja niemand einen Film drehen oder ein Stück inszenieren. Dafür braucht man Mitarbeiter, eine Produktion, Ressourcen; man ist also gezwungen, sich zu überlegen, in was für einem System man arbeitet – oder eben nicht. Paradoxerweise muss Pabst in meinem Buch in Hollywood viel größere Kompromisse machen als in Deutschland. Unter Goebbels erlebt er zunächst eine viel größere künstlerische Freiheit.
Wie sehen Sie das mit den Kompromissen, Herr Stückl?
STÜCKL: Manchen Regisseuren wie Max Reinhardt blieb nichts anderes übrig, die konnten nicht einfach bleiben. Reinhardt sah sich gezwungen, Deutschland wegen seines jüdischen Glaubens zu verlassen, und musste sich in der Emigration neu erfinden. Ich stelle mir oft die Frage, wie ich selbst damals reagiert hätte. Natürlich hofft man, dass man verantwortungsvoll umgegangen und gewesen wäre. Aber wenn ich ehrlich bin, weiß ich es nicht.
Sie haben mal erzählt, "Lichtspiel" sei Ihr lustigstes Buch. Wie viel darf man beim Thema Nationalsozialismus lachen?
KEHLMANN: Ich bin bei Weitem nicht der Erste, der Humor im Erzählen über Nazis entdeckt, das hat ja Tradition, von Ernst Lubitschs Film "Sein oder Nichtsein" von 1942 hin zu "Jojo Rabbit" von Regisseur Taika Waititi, der 2019 in die Kinos kam. Es mag komisch klingen, aber für totalitäre Staaten – ob Drittes Reich, Stalins Russland und auch Nordkorea – gilt: Sie sind extrem lächerlich. Natürlich ist es überhaupt nicht lustig, wenn man dem Schrecken in so einem Staat unterworfen ist, aber von außen betrachtet gibt es Aspekte der totalen Diktatur, die man nur mit groteskem Humor fassen kann.
Wie ist das im Theater: Achten Sie bei Inszenierungen darauf, dass an manchen Stellen bewusst nicht gelacht wird, Herr Stückl?
STÜCKL: So wie Daniel Kehlmann nie weiß, an welchen Stellen bei seinen Lesungen gelacht wird, ist es auch im Theater. Trotzdem bin ich oft überrascht, wann das Publikum tatsächlich lacht. Manchmal passiert das an Stellen, an denen ich es nie gedacht hätte. Selbst wenn der Zuschauer natürlich machen kann, was er will, und lachen kann, wann er will: Das ist nicht immer einfach für einen als Regisseur. Wenn ich bereits bei Proben merke, dass etwas missverständlich sein könnte, ändere ich es. Ich möchte zum Beispiel nicht, dass über Antisemitismus gelacht wird. Das ist mir vor ein paar Jahren bei der Inszenierung von "Der Kaufmann von Venedig" passiert.
Bei uns herrschte großes Schweigen, die Nazivergangenheit wurde vollkommen unter den Tisch gekehrt.
Es heißt, Sie hätten "Lichtspiel" auch geschrieben, um sich mit Ihrer eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen.
KEHLMANN: Ja, aber nur im weitesten Sinne. Mein Vater war Regisseur, und wenn man so will, habe ich jetzt einen Roman über einen Regisseur geschrieben. Ich war von klein auf bei Dreharbeiten dabei und hatte dadurch schon früh ein Gefühl dafür, wie es beim Film abläuft. Ansonsten könnten die beiden Familiengeschichten unterschiedlicher nicht sein. Ein Großteil meiner Familie väterlicherseits wurde im Dritten Reich in Konzentrationslagern ermordet. Das hat mich natürlich geprägt, ebenso wie mein Interesse für dieses Thema. Aber ich glaube, ich hätte das Buch auch geschrieben, wenn das nicht so gewesen wäre.
Wurde in Ihren beiden Familien viel über die Vergangenheit gesprochen oder – wie bei so vielen in Nachkriegsdeutschland – geschwiegen?
STÜCKL: Bei uns herrschte großes Schweigen, die Nazivergangenheit wurde vollkommen unter den Tisch gekehrt. Ich war der Erste, der Fragen stellte. Weil ich irgendwann mitbekam, dass es so etwas wie Antisemitismus gibt, bin ich zu meinem Opa und habe ihn gefragt: "Was ist das?" Weil der Großvater auf meine Fragen hin immer nur sagte, "Hör auf mit dem Schmarrn!", wurde es für mich besonders interessant. Bis ich 14, 15 Jahre alt war, habe ich Antisemitismus nur mit der Schoah in Verbindung gebracht. Der christliche Antisemitismus, der lange auch im Passionsspiel steckte, war mir gar nicht bewusst. Als ich im Alter von 24 Jahren dann Passionsspielleiter wurde, war ich der Erste, der sich damit auseinandergesetzt hat.
Das Magische am Theater ist hingegen diese Gegenwart, ein absolutes Alleinstellungsmerkmal.
Noch mal zurück zum Roman und zur Inszenierung am Münchner Volkstheater: Was kann die Literatur, was das Theater nicht kann, und was kann das Theater, was die Literatur nicht vermag?
STÜCKL: Wenn ich ein Buch lese, entsteht in meinem Kopf etwas ganz Eigenes. Liest jemand anderes das gleiche Buch, habe ich oft das Gefühl, als wären es zwei unterschiedliche Bücher gewesen. Beim Theater wird hingegen das, was auf Papier steht, plötzlich real; zu Figuren, denen man zusehen kann. Das kann Menschen aber genauso verstören und durcheinanderbringen wie ein Buch. Als ich das erste Mal das Passionsspiel inszeniert habe, verlangte das American Jewish Committee, dass wir den Satz "Ich wasche meine Hände in Unschuld" weglassen, weil Pilatus über Jahrhunderte als Unschuldiger dargestellt wurde. Ich habe diesen Aufruf damals brav befolgt, stattdessen habe ich Pilatus nur schreien lassen: "Wasser!" Er hat dann seine Hände gewaschen und das Wasser weggeschüttet. Nach der Vorstellung kamen so viele Leute zu mir und sagten: "So toll habe ich den Satz noch nie gehört!" Da habe ich gemerkt: Sie sehen diese Szene zwar nur, aber sie hören den gestrichenen Satz trotzdem. Solche Bilder kann nur das Theater transportieren.
KEHLMANN: Ich finde, Bücher können etwas, das überhaupt kein anderes Medium kann, einen nämlich in den Kopf eines anderen Menschen versetzen. Als Schriftsteller kann man eine Figur denken lassen. Im Film und Theater hat man diese Möglichkeit nicht. Gedanken lassen sich schließlich nicht lesen, man bleibt im Außen. Klar kann man da mit technischen Tricks wie Voiceover arbeiten, aber das ist nicht das Gleiche. Das Magische am Theater ist hingegen diese Gegenwart, ein absolutes Alleinstellungsmerkmal, dass man eben nicht den Aufzeichnungen eines Ereignisses beiwohnt oder dem festgehaltenen Gedanken eines Autors, sondern dem echten Moment. Deswegen kann Theater – wenn es wirklich gelingt – einen so in den Bann schlagen wie nichts anderes.
"Lichtspiel" nach dem Roman von Daniel Kehlmann in der Regie von Christian Stückl ist ab dem 31. Oktober im Münchner Volkstheater zu sehen.
Die vollständige Fassung des Interviews können Sie hier in der 19. Ausgabe des Volksmunds nachlesen.