Das Viertel und seine Migrationsgeschichte
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Autor: Tobias Obermeier
Das einfach gehaltene Ladenschild mit schwarzer Schrift auf weißem Hintergrund lässt erahnen, dass es das Geschäft schon seit einiger Zeit gibt. "Schleiferei Metzgereiartikel Messer-Massari" steht in großen Lettern darauf. Die Eingangstür aus Aluminium ist ebenso einfach gehalten. Rund um das Schaufenster, in dem Schlacht- und Küchenmesser in verschiedensten Formen und Größen ausgestellt sind, kleben Namen von großen Messerherstellern wie "Böker", "Swibo" oder "Dick". Der Laden von Manuele Massari in der Adlzreiterstraße, gleich gegenüber dem Münchner Volkstheater, ist eine Institution im Schlachthofviertel. Die Firmengeschichte geht über 150 Jahre zurück.
Der Vieh- und Schlachthof war die Gewerbezone schlechthin.
"Die Messerschleifer kamen zum großen Teil im 19. Jahrhundert aus dem Trentino. Viele Vertreter von Berufen, die mit Schlachten oder der Verarbeitung zu tun hatten, haben sich hier niedergelassen. Der Vieh- und Schlachthof war die Gewerbezone schlechthin." Dr. Elisabeth Siedel ist freiberufliche Stadtführerin und bietet Führungen zur Migrationsgeschichte des Schlachthofviertels an. Neben italienischen Messerschleifern waren es vor allem Binnenmigrant*innen rund um München, die sich mit der Gründung des Vieh- und Schlachthofs im Viertel niederließen. "Zunächst war es ein Anziehungspunkt von Menschen aus dem Umland wie Nicht-Erbberechtigte oder Bauernkinder, die zuhause maximal eine Strohmatte und was zu Essen bekommen haben. Die suchten ihr Glück in der Stadt und landeten dann im Schlachthof."
Hinzu kamen viele jüdische Pferdehändler und Lederverarbeiter. Das hat damit zu tun, dass in der Reichsverfassung von 1871 die Gleichberechtigung der jüdischen Bevölkerung verankert wurde und sich Jüd*innen somit im Deutschen Kaiserreich erstmals frei bewegen und niederlassen konnten, wo sie wollten. "Sehr viele der sogenannten Landjuden, die in der Regel sehr arm waren, aber auch mit Pferde- und Viehhandel zu tun hatten, bauten sich ein zweites Standbein auf. Die sind da geblieben, wo sie waren, z.B. in der schwäbischen Alb, und haben sich am großen, aufsteigenden Schlachthof von München ein zweites Standbein als Viehagenten oder Lederverarbeiter aufgebaut", so Siedel. Einen großen Anteil daran hat auch der damalige Südbahnhof, der diese frühe Form der mobilen Arbeit ermöglichte.
Hintergrund zum Begriff: "Landjudentum"
Im Mittelalter lebte die Mehrzahl der Jüd*innen in Städten. Während der großen Pestpogrome und antijüdischen Verfolgungen waren viele von ihnen gezwungen, nach Osteuropa oder auf das Land zu fliehen. Die sogenannten "Landjuden" mussten in den Dörfern meist am Rand wohnen, hatten kaum Rechte und konnten ihren Glauben nur schwer ausleben. Erst im 19. Jahrhundert, als sich die rechtliche und wirtschaftliche Situation der Jüd*innen verbesserte, verschwand das Phänomen des Landjudentums allmählich. Vor allem viele aus der jüngeren Generation zogen in die Stadt, um dort Arbeit und Ausbildung zu finden.
Heutzutage ist das Schlachthofviertel eines der letzten Viertel in München, in denen Arbeit und Gewerbe noch so stark miteinander verbunden sind. Siedel beobachtet während ihrer Führungen, dass sich viele untereinander kennen und es ein sehr gutes soziales Miteinander gibt. "Wenn man öfters im Viertel unterwegs ist, lernt man sehr schnell Menschen kennen, die dort arbeiten oder wohnen." Vor allem italienische und griechische Gastarbeiter*innen, die ab den 1950er und 60er Jahren nach München kamen und im Vieh- und Schlachthof Arbeit fanden, prägten das Viertel. Spuren lassen sich heute noch finden. So gibt es in der Kirche St. Andreas in der Zenettistraße nach wie vor einen italienischen Gottesdienst. Und in der Lindwurmstraße hat die italienische katholische Gemeinde München ihren Sitz. Nach wie vor wird sehr viel Griechisch auf den Straßen und in den Lokalen gesprochen. Ein beliebter Treffpunkt ist das Panorama, ein griechisches Lokal in der Adlzreiterstraße.
Die meisten Nachkommen der damaligen Gastarbeiter*innen, die heute noch im Viertel wohnen, arbeiten mittlerweile im Dienstleistungssektor, wie Elisabeth Siedel erzählt. "Den klassischen Arbeiter gibt es in dem Sinne kaum mehr. Außer eben die echte Schlachterarbeit. Das machen mittlerweile Osteuropäer." Bei einem ihrer Führungen gesellte sich ein Mechaniker aus einer KfZ-Werkstatt ebenfalls in der Adlzreiterstraße dazu, der aus einer Gastarbeiter*innenfamilien stammt und in München geboren ist. Als Siedel ihn darauf Ansprach, wo er wohnt, zeigte er auf das Haus, in dessen Hinterhof sich die Werkstatt befindet. Und das macht den Charme dieses alten, nachbarschaftlichen Viertels aus. Dass hier das Arbeiten, Wohnen und soziale Leben noch an einem Ort stattfindet.