Ein Hauch von Realität

Am Düsseldorfer Schauspielhaus wird aus Homers "Odyssee" mit Laien-Darsteller*innen aus Deutschland und der Ukraine ein aktuelles Stück über den Krieg. Ein Gespräch mit dem Regisseur Stas Zhyrkov.

Interview: Lea Nitsch

Wie ist die Idee entstanden, die "Odyssee" auf die Bühne gekommen?

Die Idee, Homers "Odyssee" mit dem Krieg in der Ukraine zu verbinden, stammt von der Dramaturgin Birgit Lengers und dem Dramatiker Pavlo Arie. Birgit war es wichtig, die Frauen in der Ukraine zu unterstützen und ihrer Realität eine Stimme zu geben. Ich wusste, dass ich eine emotionale Verbindung zwischen Deutschland und der Ukraine schaffen will. Außerdem wollte ich unbedingt die Perspektive ändern. Das Stück gehört zu den patriarchalsten Texten, die man in der Weltgeschichte finden kann. Das ist für mich nicht mehr zeitgemäß. Also war es mir sehr wichtig, den Text an unseren Zeitgeist und unser Denken anzupassen.

Regisseur Stas Zhyrkov © Gianmarco Bresadola
Unsere 'Odyssee' hat einen komplett anderen Denkansatz als das Original.

Was haben Sie geändert?
Vor allem die Figur der Penelope, der Frau von Odysseus, die im Original vor allem wartet, was passiert. Heute ist die Position von Frauen innerhalb des Kriegs anders als früher. Die Frauen in der Ukraine kümmern sich um Geld. Sie besorgen Lebensmittel oder Medizin. Sie sind echte Kämpferinnen. Ich glaube, die Ukraine ist gerade auf Platz zwei weltweit, was die Anzahl von Frauen im Militär angeht, direkt hinter Israel. Ukrainische Frauen warten nicht passiv darauf, dass sich etwas ändert. Unsere "Odyssee" hat also einen komplett anderen Denkansatz als das Original.

Homers "Odyssee" ist ja nicht das einzige Material, das Sie für das Theaterstück verwendet haben.
Ich glaube, wir hatten insgesamt fünf Quellen: Homers "Odyssee", Pavlo Aries "Odyssee", Interviews mit Frauen in der Ukraine, Interviews mit geflüchteten Frauen in Deutschland und eine Liebesgeschichte zwischen Jugendlichen. In diesem Fall war es mir ganz besonders wichtig, so viele unterschiedliche Quellen zu haben. Nur so kann man ein interessantes Theaterstück machen, das möglichst viele Menschen erreicht. Dieses Theaterstück hat direkt mit der Realität zu tun. Wenn man in der heutigen Zeit als ukrainischer Mensch Kunst macht, ist es immer ein wenig politisch. Da kommt man nicht drum herum. Man muss auf alle möglichen Arten und Weisen für sein Land kämpfen.

Zusätzlich haben Sie auch Musik verwendet. Welche Rolle spielt sie?
Die Musik ist sehr wichtig in dieser Produktion. Wir haben mit der ukrainischen Musikerin und Komponistin Mariana Sadovska zusammengearbeitet, die schon einige Jahre in Deutschland lebt. So kann sie beide Seiten verstehen, was wirklich hilfreich war. Wir haben versucht, ukrainische und deutsche Songs gezielt zu platzieren – genau da, wo sie den größten Effekt haben. Wir haben Instrumente und Gesang auf der Bühne, was cool ist. Das gibt der Performance etwas, das nicht künstlich scheint. Es ist roh und real und kommt von Herzen. Die Musik ist eine weitere Möglichkeit, das Publikum zu erreichen.

Was wollen Sie dem Publikum mit diesem Stück mitgeben?
Es geht um die Erfahrung. Theater kann keine Kriege stoppen oder gewinnen. Aber: Theater kann uns helfen, die Erfahrung von Krieg zu vermitteln. Man braucht diese Erfahrung, um nachvollziehen zu können, was da gerade in der Ukraine passiert. Um wirklich zu verstehen, wie es den Menschen dort gerade geht. Danach kann man sich entscheiden: Will ich helfen oder nicht? Möchte ich Essen oder Unterkünfte zur Verfügung stellen oder nach meiner eigenen Möglichkeit helfen? Wenn man mental und emotional so weit entfernt von etwas ist, kann man es nicht verstehen. Mit der "Odyssee" können wir dem Publikum zumindest einen Hauch von der Realität zeigen, die ukrainische Menschen gerade täglich durchleben. Das ist das Wichtigste.

Welche Herausforderungen gab es während der Proben?
Die "Odyssee" bringt Leute aus verschiedenen Ländern und Kulturen zusammen. Deutsche und Ukrainer*innen sind sehr unterschiedlich. Ihre Lebensumstände könnten gerade nicht weiter voneinander entfernt sein. Deswegen ist es wichtig, dass beide Seiten einander verstehen und sich näher kommen. Man kann nicht wütend auf die ganze Welt sein und denken: "Oh, ihr habt hier solche perfekten Leben, und dort bin ich mit meinem abgebrannten Haus." Das war für mich als Regisseur eine Herausforderung, eine Balance zwischen diesen ganzen verschiedenen Menschen mit ihren unterschiedlichen Lebensrealitäten zu finden. Ich musste auf jedes Detail der Geschichte achten, jedes einzelne Mitglied des Ensembles. Es ist sehr wichtig, die Aussage eines so schwierigen Stücks für das Publikum nicht zu einfach oder zu plakativ zu machen. Sie muss von Herzen kommen und aufrichtig sein.

Wie haben Sie das Proben mit Laien-Darsteller*innen erlebt?
Für mich war das eine schöne Erfahrung. Du hast dadurch einfach ein anderes Level an Theater auf der Bühne. In manchen Momenten können die Schauspieler*innen dir vielleicht nicht weiterhelfen. Dann musst du als Regisseur*in professionell sein. Du musst ihnen eine Menge Informationen und auch Aufmerksamkeit geben. Bei professionellen Schauspieler*innen hinterfragt man manchmal, ob die Gefühle auf der Bühne echt sind. Hier stand das außer Frage. Deswegen war es mir auch wichtig, eine positive Proben-Atmosphäre zu schaffen. Nur so kann man an solchen schweren Themen und Geschichten arbeiten.

Als Regisseur ist es meine Aufgabe, bei jeder einzelnen Person zu prüfen, mit welchem emotionalen Wasserstand sie arbeiten können.

Wie sind Sie mit der sehr persönlichen Verbindung der Darsteller*innen zum Stück umgegangen?
Bei solchen Projekten ist es wichtig, eine emotionale Grenze zu ziehen. Das kann man sich so vorstellen: Wir alle haben einen inneren Pool an Emotionen in uns und jeder ist an einen anderen Wasserstand gewöhnt. Ist es okay, wenn dir das Wasser bis zur Schulter steht? Oder bis zum Kinn? Oder gar bis unter die Nase? Manche sagen: Okay, bis hierhin und nicht weiter. Andere können ein wenig mehr verkraften. Das ist eine sehr persönliche Sache. Als Regisseur ist es meine Aufgabe, bei jeder einzelnen Person zu prüfen, mit welchem emotionalen Wasserstand sie arbeiten können. Ich habe allen Darsteller*innen geraten: Wenn ihr es aussprechen wollt, sagt es. Wenn es zu schwierig oder schmerzhaft ist, schweigt. Das ist allein eure Entscheidung.

Die "Odyssee" ist dieses Jahr Teil des Radikal-Jung-Festivals. Was macht das Stück radikal für dich?
Das ist eine lustige Frage, weil ich sie nicht wirklich beantworten kann. Was bedeutet radikal überhaupt in der heutigen Zeit? Bedeutet es, direkte politische Aussagen auf der Bühne zu treffen? Bedeutet es, zu den Wurzeln des Theaters zurückzugehen und sich gegen den Fortschritt zu stellen? Ich habe das Gefühl, dass die Theater heute alle radikal, cool und dynamisch sein wollen. Vielleicht ist aber für ein Publikum, das mit solchen Erwartungen ins Theater kommt, etwas ganz anderes radikal. Das ist eine Frage, die nur das Publikum beantworten kann. Ist es radikal zu sagen, wer gut und böse ist? Vielleicht.

 

"Odyssee" © Sandra Then

"Odyssee" © Sandra Then

"Odyssee" © Sandra Then

"Odyssee" © Sandra Then

"Odyssee" © Sandra Then

"Odyssee" © Sandra Then

"Odyssee" © Sandra Then

"Odyssee" © Sandra Then

Mehr zur Autorin

Lea Nitsch studiert Musikjournalismus an der TU Dortmund und interessiert sich für alles, was die Kultursphäre zu bieten hat. Nebenbei arbeitet sie als freie Autorin.

 

Das Radikal jung Festival 2023 wird in Kooperation mit der Jungen Bühne unter der Leitung von Anne Fritsch von jungen Autor*innen und Kulturjournalist*innen begleitet! Täglich erscheinen neue Artikel auf unserem Blog. Blickt in Interviews, Vorberichten, Festivaltagebüchern oder Videos hinter die Kulissen des Festivals!