Ein verstörendes Panorama
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Text: Marvin Wittiber
"Alle sechs Stunden wird in Brasilien eine Frau wegen ihres Geschlechts getötet", titelt DER SPIEGEL im März 2023. Die Zahl der Femizide im Jahr 2022 ist damit die höchste seit Erhebung der Daten, im Vergleich zum Vorjahr ist sie gar um fünf Prozent gestiegen. Gewalt gegen Frauen in Brasilien und Lateinamerika hat Tradition. Oft wird sie von Partnern oder Ex-Partnern ausgeübt. Eine strafrechtliche Verfolgung bleibt in vielen Fällen aus. Man könnte fast sagen, frauenfeindliche Gewalt ist ein Kulturgut, das von Generation zu Generation weitestgehend unhinterfragt weitergegeben wird.
Gleichzeitig erheben mittlerweile immer mehr Frauen ihre Stimme und kämpfen für ihre Rechte. Dazu zählt auch die brasilianische Autorin und Regisseurin Carolina Bianchi. Zusammen mit ihrem Kollektiv Cara del Caval hat sie 2023 im Rahmen des Festival d'Avignon ihre Inszenierung "The CADELA FORÇA TRILOGY: Chapter I – The Bride and The Goodnight Cinderella" zur Uraufführung gebracht. Darin thematisiert sie die jahrhundertealte, bis heute andauernde Gewalt an Frauen und stellt ihren eigenen Körper zur Verfügung, um ermordeten Frauen durch ihn sprechen zu lassen. Eine theatrale Grenzerfahrung.
Der Abend beginnt als Lecture Performance. An einem langen Tisch mit einem Stuhl, einem Mikrofon, einer entzündeten Kerze und einem 500 Seiten langen Textstapel berichtet Bianchi von ihrer Recherchearbeit und erzählt von der Geschichte der Performance-Kunst, die zum großen Teil von Frauen geprägt sei. Seit ihren Anfängen würden Künstlerinnen ihre Körper einsetzen, um ein Zeichen gegen Gewalt zu setzen. Von Fotografien und Bewegtbild auf einer großen Leinwand hinter ihr begleitet, zeichnet sie ein so verstörendes wie beeindruckendes Bild davon, wie weit Frauen gegangen sind, um auf die Gewalt an ihren Schwestern aufmerksam zu machen.
In Erinnerung daran und Würdigung dessen reiht sich nun auch Bianchi in den Kreis dieser Performancekünstlerinnen ein: Einem Wodka-Tonic mischt sie unter den Augen des Publikums die als K.O.-Pulver bekannte "Aschenputtel-Droge" unter. Bereits hier wird die Grenze zwischen Körper und Gewalt sichtbar gemacht. Nun wartet man als Zuschauer*in darauf, dass die Wirkung einsetzt, sie sich auf den Tisch legt, ihre Stimme verstummt und sie ohnmächtig wird. Ein schwer zu beschreibendes, beklemmendes Gefühl, das sich im Brustkorb festsetzt. Im Zuschauerraum herrscht angespannte Stille.
Schließlich kommen weitere Performer*innen auf die Bühne, tragen den regungslosen Körper auf die Seite und verwandeln den Bühnenraum in eine höllenartige, pechschwarze Grabstätte. Einzig ein Auto – statt des Kennzeichens die Worte "Fuck Catharsis" tragend – eröffnet die Möglichkeit eines Entkommens. Einer Séance oder Geisterbeschwörung gleich folgt man den Protagonist*innen auf eine "danteske Höllenreise", wie es immer wieder heißt. Historische, biografische und literarische Erzählungen werden in assoziativen, szenischen Miniaturen miteinander verwoben und ein verstörendes Panorama der Gewalt an Frauen skizziert.
Wenn Bianchi am Ende von ihren Kolleg*innen geweckt und gestützt wird, ist man ob dessen erleichtert. Der verzweifelte Wunsch, nicht mehr zwischen Schlaf und Déjà-vu gefangen sein zu wollen und endlich aufzuwachen, ist spürbar. Und doch liegt die Tragik vor allem darin, dass eben viele andere nicht überlebt haben und wohl auch noch viele weitere ähnliche Schicksale erleiden werden. Wie existenziell das Anliegen ist, ist auf schmerzvollste Weise in jeder Minute spürbar. Es bleibt die Erkenntnis, dass außergewöhnliche Umstände manchmal eben außergewöhnliche Maßnahmen erfordern.
Mehr zum Autor
Marvin Wittiber geboren 1998, studierte Sozialwissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Er arbeitet als freier Autor, Journalist und Kritiker, u. a. bereits für „Mannschaft Magazin“, queer.de, „junge bühne“, Film- und Medienstiftung NRW sowie für „kritik-gestalten“, „StückeBlog“ der Mülheimer Theatertage und youpod.de. Darüber hinaus war er von 2020 bis 2023 Juror des Bundestreffens Jugendclubs an Theatern.