Sweet as Candy
Datum
Text: Sophie-Margarete Schuster
Vor dem Einlass wird uns Sekt spendiert. Und es gibt Merch: T-Shirts und Unterhosen mit dem Aufdruck "Sandy ate my heart". Auf den Sitzen liegen kleine Plakate mit einem Spotify-Code, der das Publikum zu der Playlist des Lip-Sync-Musicals "PANDORA'S HEART" weiterleitet. Auf einer Leinwand erscheint ein großer roter Mund. Er erklärt uns, dass alle Reaktionen erlaubt sind: Jubeln, Schreien, Lachen, Gähnen, Reinrufen – Hauptsache, alle machen mit. Die Regisseur*innen Anna Schill, Friederike Brendler und Maret Zeino-Mahmalat haben sich den Wunsch des großen roten Mundes zur Maxime gemacht: einen Abend schaffen, der zugänglich ist; der unterhält und gute Laune macht.
Um Hephaistos’ Pandora und griechische Mythologie wird es nicht gehen. Stattdessen soll ein neues Bild entstehen; eine eigene Geschichte erzählt werden. Eine Geschichte, die sich nicht in der Verantwortung sieht, in einer Beziehung zu Diskurs und Theorie stehen zu müssen: Sandy, a girl as sweet as candy, betritt die Bühne. Sie entdeckt einen Schmetterling, stolpert verträumt durch den Wald und kommt vom Weg ab. "Ich habe Angst. Ich weiß gar nicht warum. In mir ist eine Leere, die sich bis oben hin mit Sehnsucht füllt. Auch wenn ich nicht genau weiß, wonach", spricht eine Stimme auf die Lippen der Dragqueen Uschi vom Späti, die sich als Sandy in pinken Glitzer-Heels und rosa Kleidchen im Wald verirrt hat. Sandy weint bitterlich und schläft auf dem Waldboden ein. Aus der Dunkelheit – aus den Fugen ihrer Träume – kriechen vier Wesen hervor. Sie winden sich, gleiten in fließenden Bewegungen über den Bühnenboden und läuten den Auftritt Pandoras ein.
Die Leichtigkeit, mit der diese Inszenierung macht, worauf sie Lust hat, leistet dem Radikal jung Festival einen wichtigen Beitrag.
Die Choreografie von Lillian Joachim nimmt das Publikum bei der Hand und führt es mitten hinein in eine Phantasie – in ein buntes Lodern, ein Brennen. Die Energie, mit der die Darsteller*innen sich bewegen, macht einfach Spaß. Und Spaß ist es auch, was diesen Abend antreibt. Im Sprung zwischen energiegeladenen Choreografien und einer eigenwilligen Form des Erzählens schafft es "PANDORA'S HEART", die Zuschauer*innen für die Sache zu begeistern. Nicht für eine verschlüsselte Botschaft, komplizierte Referenzen oder einen moralischen Appell, sondern für die Zeit, die wir in dieser Inszenierung verbringen – die Freude am Tanz, an den Kostümen und der Musik.
Wir schauen Sandy dabei zu, wie sie sich unsterblich in Pandora verliebt. "Kannst du mich mitnehmen", fragt Sandy Pandora. "Nein, aber ich kann dich davon abhalten, aufzuwachen", antwortet they. Die schwanenähnliche Gestalt mit langen schwarzen Krallen nimmt die Bühne ein: rotes Licht, Funkeln, laute Musik. Sandys Bewunderung kehrt sich in Obsession. Sie möchte Pandora sein. Der große rote Mund erklärt: Wer Pandora sein will, muss Pandora töten. Aber: One can only kill the living. Also: Sandy muss they dazu bringen, sich in sie zu verlieben, damit Pandoras Herz zu schlagen anfängt. Die Verführung zeigt Wirkung. Bum. Bum. Bum.
Pandoras Herz beginnt zu schlagen, und Sandy wittert ihre Chance. Sie reißt Pandora das Herz heraus und beginnt, es zu verspeisen. Und weil sie dafür etwas Zeit für sich braucht, kündigt sie eine 15-minütige Pause an. Eine Viertelstunde später räumt Sandy sich noch schnell die letzten Herzkrümel aus den Zahnzwischenräumen, bevor die Show in der Unterwelt wieder losgeht. Doch so richtig will es nicht gelingen: Sandy jagt dem Spotlight hinterher, und die Wesen sind nur halbherzig dabei – Sandy merkt, dass es nicht der richtige Weg war, jemand anderes sein zu wollen. Und Pandora? Die sucht Rache und bricht Sandy bedenkenlos das Genick. Es regnet goldenes Konfetti. Doch auf ein so ein düsteres Ende scheint das Regie-Trio aus Gießen dann wohl doch keine Lust gehabt zu haben, für das Happy End wird die Zeit jetzt kurzerhand zurückgespult: Nun wird Pandoras Herz nicht mehr gegessen, die beiden verlieben sich neu und tauschen ihre Herzen. Die Leichtigkeit, mit der diese Inszenierung macht, worauf sie Lust hat, leistet dem Radikal jung Festival einen wichtigen Beitrag: Es erinnert daran, dass die Zeit im Theater Spaß machen kann. Und das ist hier gelungen.
Mehr zur Autorin
Sophie-Margarete Schuster geboren 2001 in Frankfurt am Main. Regie-Hospitanz an der Volksbühne Berlin (2020). Studium der Geschichts- und Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Studentische Mitarbeit in der Redaktion der geschichtswissenschaftlichen Informations- und Kommunikationsplattform "H-Soz-Kult". Ehrenamtliche Mithilfe in transnationalen Theaterprojekten der KULA Compagnie. 2023 erstmals journalistisch für "Theater der Zeit" aktiv und freiberuflich als Lektorin für den Verlag.