Eine Revolte der Solidarität?
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Text: Marvin Wittiber
Seit der Selbstenttarnung des NSU im Jahr 2011 gab es 50 Fälle von rechtsextremistischem Terror in Deutschland. Das hat die gemeinnützige Organisation CeMAS (Center for Monitoring, Analyse und Strategie) dokumentiert und nun erstmals gesammelt aufbereitet. Der Report wurde gestern der Öffentlichkeit vorgestellt. Die über die Jahre konstant steigende Zahl der Fälle zeugt von einer immer höheren Gewaltbereitschaft. Ist das gebetsmühlenartige Betonen des "Nie wieder" nichts weiter als reine Heuchelei?
Raus aus der Opferrolle der sogenannten deutschen Erinnerungskultur und weg von Polizeigewalt, Rassismus und Antisemitismus – aber wie soll das in einer Gesellschaft gehen, die Betroffene weitestgehend allein kämpfen lässt? In "Die Gerächten" schließen sich Einzelne zu einer gleichnamigen postmigrantischen Untergrundorganisation zusammen und planen die große Revolte: endlich Nein sagen. Für das Theater Dortmund hat Autor und Regisseur Murat Dikenci dafür mit einem dreiköpfigen Ensemble biografische Erzählungen zusammengetragen und sie um Berichte zu der seit Jahrzehnten stattfindenden rassistischen Gewalt an und Unterdrückung von marginalisierten Menschen in Deutschland ergänzt.
Können Vergeltung, Versöhnung und Vernunft eine gesellschaftliche Neuordnung herbeiführen? Welche Gewalt darf angewendet werden, um Gewalt zu verhindern?
Beides verbindet er geschickt mit den politischen Gedanken aus "Die Gerechten" von Albert Camus aus dem Jahr 1949 über die Revolte und den liebenden Menschen in der Revolte. Dabei hat Dikenci in seiner Stückentwicklung den Camus‘schen Klassiker in die Gegenwart weitergedacht und somit ein interessantes Spannungsfeld zwischen Recht und Rache eröffnet. Zentraler Anknüpfungspunkt ist hier die Solidarität, die sich schließlich auch auf weitere Teile der Gesellschaft übertragen ließe. Auch die Revolte sei laut Camus endlos, daher wäre eine solidarische, liebende Revolte möglich.
Zu Beginn skizzieren die Protagonist*innen ihre Lebensrealitäten, aus derer heraus sie ebenjene Widerstandsgruppe gegründet haben, um das Gleichgewicht der Gerechtigkeit in Deutschland wiederherzustellen und Rache zu nehmen, für alles, was geschehen ist und auch heute noch geschieht. Die drei Kämpfer*innen rufen dazu auf, die neue Weltordnung durch Liebe, Rache und Solidarität umzusetzen. Doch das sorgt nicht nur innerhalb des Trios für heftige Diskussionen und kritische Entscheidungen. Geschickt arbeitet Dikenci zentrale Fragen heraus: Können Vergeltung, Versöhnung und Vernunft eine gesellschaftliche Neuordnung herbeiführen? Welche Gewalt darf angewendet werden, um Gewalt zu verhindern?
In seiner immersiven Theaterinszenierung gibt es keine klassische Aufteilung zwischen Zuschauertribüne und Bühne. Der Raum ist durch eine Glaswand in zwei Teile geteilt. Es handelt sich um einen nicht näher definierten Spielort. Auch das Kostüm unterstreicht eine nicht eindeutig definierte Zeit- und Räumlichkeit. In dem Raum hinter der Glaswand werden politische Manifeste und Reden in poetischer Sprache zitiert, darunter wabern brummige Soundscapes. Das Publikum, das von den Spieler*innen immer wieder direkt angesprochen und einbezogen wird, kann jederzeit seine Position im Raum verändern, sich nähern oder auch distanzieren. Schließlich sind alle im Raum potentielle neue Mitglieder dieser Bewegung.
Holocaust-Überlebende wie Margot Friedländer, deren Porträt an einer der Wände hängt und die wie zwei weitere Betroffene durch Audio-Einspieler zu Wort kommt, erinnern immer wieder daran, was geschehen ist und dass wir etwas tun müssen, damit sich die Geschichte nicht wiederholt. Das zeigt sich besonders in den Momenten, wenn historische und aktuelle Opferberichte zusammengetragen werden. Aber was lohnt wofür? Heiligt der Zweck die Mittel?
Wichtige und nicht leicht zu beantwortende Fragen, die Dikenci hier konzentriert herausfiltert. Allerdings belässt er es bei viel Theorie und zu wenig szenischem Spiel, die Möglichkeiten, die sich durch die Interaktion mit dem Publikum ergeben, bleiben weitestgehend ungenutzt. So kommt der Abend nicht so recht von der Stelle, das Gedankenspiel verpufft und lässt sich nicht in den Körper, die Emotionen transferieren. Dabei ist es, wenn man Camus folgt, doch gerade das, was eine erfolgreiche Revolte braucht: Gefühle. Sie können als Triebfeder für Handlungen dienen, aber auch als Quelle von Stärke und Zusammenhalt in schwierigen Zeiten.
Mehr zum Autor
Marvin Wittiber geboren 1998, studierte Sozialwissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Er arbeitet als freier Autor, Journalist und Kritiker, u. a. bereits für "Mannschaft Magazin", queer.de, "junge bühne", Film- und Medienstiftung NRW sowie für "kritik-gestalten", "StückeBlog" der Mülheimer Theatertage und youpod.de. Darüber hinaus war er von 2020 bis 2023 Juror des Bundestreffens Jugendclubs an Theatern.