Erschreckend aktuell
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Interview: Theresa Eckert
Annie Ernaux erzählt in ihrem autobiographischen Roman von ihrer illegalen Abtreibung in den 1960er Jahren. Vor dem Hintergrund der sexuellen Freiheit und Autonomie der Frau – in welcher Situation befinden wir uns im Roman?
Annie, die Protagonistin, erlebt diese Geschichte im Frankreich der Jahre 1963-64, also noch vor der 68er-Bewegung und der Legalisierung der Abtreibung. Die Unterdrückung der Frau war damals noch viel stärker, zumindest in Ländern wie Frankreich oder Deutschland. Was mich wirklich berührt und aufgerüttelt hat, ist, dass Annie sicher ist, dieses Kind auf keinen Fall bekommen zu wollen. Sie weiß, dass sie sich zwischen Körper und Intellektualität entscheiden muss. Sie kommt eigentlich aus einer Arbeiterfamilie, hat es aber als erste geschafft, zu studieren und sich aus ihrem Herkunftsmilieu zu emanzipieren. Ihr Grund für eine Abtreibung ist, ihren sozialen Aufstieg nicht aufgeben zu müssen.
Ihr Grund für eine Abtreibung ist, ihren sozialen Aufstieg nicht aufgeben zu müssen.
"Das Ereignis" ist nicht Ihre erste Inszenierung eines autobiographischen Werks von Annie Ernaux. Am Schauspiel Stuttgart haben Sie bereits die szenische Lesung "Erinnerung eines Mädchens" realisiert. Was fasziniert Sie an der Autorin?
Annie Ernaux ist Pionierin einer Literaturströmung, die mich inhaltlich sehr anspricht. Sie bezeichnet sich als "Ethnologin ihrer selbst": Ausgehend von ihrer persönlichen Geschichte behandelt sie soziale Themen, die oft tabuisiert sind, seziert eine ganze Gesellschaft – und das in einer unvergleichlichen Kompromisslosigkeit. Und genau diese Sprache, ihre Sprache, ist der andere Punkt, warum sie mich begeistert: Sie schreibt auf einer so schonungslosen und wahrhaftigen Art und Weise, dass man beim Lesen keinen Schutz oder Ausweg mehr hat. Gleichzeitig finde ich sie aber auch wahnsinnig poetisch.
Obwohl der Roman bereits 2000 in Frankreich herauskam, ist "Das Ereignis" erst 2021 auf deutsch erschienen. 2022 erhielt Ernaux den Literatur-Nobelpreis für ihr Werk. Welche Relevanz hat dieser Roman für junge Menschen heute?
Die Geschichte ist erschreckend aktuell: Es geht um Freiheit, Widerstand und Menschenrechte. Wenn es um Frauenfreiheit und Frauenkörper geht, haben wir in den letzten Jahren weltweit enorme Rückschritte erlebt. Abtreibungsgesetze wurden in vielen Ländern verschärft. Das sollte nicht einfach so hingenommen, sondern aktiv angegangen werden. Aber der Text handelt auch von Einsamkeit, einer Einsamkeit, die schicksalhaft werden kann, weil es innerhalb der Gesellschaft nicht genug Mut gibt, bestimmten Fragen Raum zu geben.
In welcher Zeit ist Ihre Inszenierung angesiedelt?
Ich habe mit meiner Dramaturgin Finnja Denkewitz überlegt, ob wir den Roman aktualisieren und mit der heutigen Welt koppeln müssen. Aber das war nicht notwendig – er hat eine universale Gültigkeit und die Kraft, ein kollektives Bewusstsein für diese Diskurse zu schaffen.
Wie bringt man einen Roman aus der Ich-Perspektive auf die Bühne?
Mir war es sehr wichtig, die Konzentration und Intimität dieser Geschichte bei der Inszenierung bewusst beizubehalten. Ich wollte auf keinen Fall zu theatralisch oder gewollt erzählen. Wir sind schließlich den Weg der Reduktion und des Minimalismus gegangen, um die Geschichte zu destillieren und die Sprache atmen zu lassen.
Welche Herausforderungen sind dabei aufgetreten?
Annies Tagebuch- und Kalendereinträge mit den Gefühlen und Ereignissen von damals werden durch ihre Reflexionen von heute, also im Jahre 1999, unterbrochen. Und das ist sehr spannend: Die Erzählerin taucht mit den Bildern ein, die ihr von damals geblieben sind, und versucht mit der Sprache von heute darin einen Körper zu finden. Diese Sprunghaftigkeit ist natürlich besonders und nicht einfach zu inszenieren. Die Verfilmung von Audrey Diwan zum Beispiel hat die Reflexionen weggelassen und die Geschichte chronologisch erzählt. Für unsere Theaterinszenierung sind diese zwei Ebenen jedoch essenziell.
Führte diese Sprunghaftigkeit im Text auch zu der Entscheidung, ihn auf drei Spielerinnen zu verteilen?
Dass wir Annies Stimme auf drei Personen aufgeteilt haben, macht das Stück natürlich dialogisch und dynamischer. Wir wollen damit auch ihr individuelles Schicksal als ein kollektives darstellen. Viele andere Menschen haben eine ähnliche Geschichte erlebt – das Thema verbindet viele Frauen, der Umgang mit dem eigenen Schicksal, mit dem eigenen Körper kann sehr komplex sein. Josefine Israel, Sandra Gerling und Sasha Rau sind drei unterschiedliche Spielerinnen und zeigen verschiedene Aspekte von Annie.
Durch die besondere Nähe von Publikum und Bühne wird Ihre Inszenierung zu einem besonders intensiven Theatererlebnis. Man sitzt in einem hellen, klinisch weißen Raum in einem Kreis um die Bühne, ist mittendrin im Geschehen. Welche Absicht steckt dahinter?
Für das Publikum ist das wahnsinnig unangenehm. In diesem arenaartigen Zuschauerraum entsteht ein Gefühl des ständigen Beobachtetwerdens. Die Spielerinnen sind ungewohnt nah, es gibt keine Fluchtmöglichkeit. Dieser ständige Blick der anderen zieht sich durch das ganze Buch – genauso ausgestellt, schutzlos und ausgeliefert hat sich auch Annie damals gefühlt. Ihre Einsamkeit und Verzweiflung liegt weniger an dem Vorgang der Abtreibung an sich, sondern im Gefangensein der Frau in Gesetzen und Normen, die ihr Handeln behindern.
Ist das Theater für Sie auch ein Weg, gesellschaftliche Veränderungen voranzutreiben?
Für mich liegt die Kraft des Theaters darin, es als Medium der Konfrontation zu nutzen. Als Konfrontation mit Themen, die man vermeidet oder verdrängt. Es sind mehr Menschen von Schwangerschaftsabbrüchen betroffen, als man denkt. Weil es immer noch ein Tabu ist. Und es ist fatal, wenn diese Gefühle und Erfahrungen keinen Output finden. Wir hoffen, mit unserer Inszenierung noch mehr Menschen zu erreichen und für das Thema zu sensibilisieren.
Mehr zur Autorin
Theresa Eckert, 28 Jahre alt, hat Germanistik und Literaturwissenschaft in Salzburg und München studiert. Sie arbeitet redaktionell in einer Dokumentarfilmproduktion in München und beschäftigt sich außerdem gerne mit Theater, Film und Kunst.
Das Radikal jung Festival 2023 wird in Kooperation mit der Jungen Bühne unter der Leitung von Anne Fritsch von jungen Autor*innen und Kulturjournalist*innen begleitet! Täglich erscheinen neue Artikel auf unserem Blog. Blickt in Interviews, Vorberichten, Festivaltagebüchern oder Videos hinter die Kulissen des Festivals!