Keine Fucking Geigenmusik
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Text: Martina Jacobi
"GRM. Brainfuck. Das sogenannte Musical" ist eine "zynische Persiflage auf den Neoliberalismus", so die Ankündigung des Theaters Dortmund. Dennis Duszczak hat die Bühnenfassung von Sibylle Bergs gleichnamigem Roman am Schauspiel Dortmund inszeniert. Der Text tut weh, auch als "Brainfuck" in Gedanken bei Cappuccino und Schorle. Ich habe mich mit Dennis Duszczak und der Dramaturgin Hannah Saar im Café Strickmann verabredet, fußläufig zwei Minuten vom Schauspiel Dortmund entfernt. Wir unterhalten uns darüber, wie man so eine grausame Gesellschaft voller Sexismus, Klassismus, Hierarchie und Wut, aber auch irgendwie voller Hoffnung und Wärme auf die Bühne bringt.
Der Roman von Berg umfasst 600 Seiten, durch die man sich erstmal "durchboxen" muss, "weil es auch diese Brutalität in der Sprache hat", beschreibt Dennis seine Leseerfahrung. Auch die kürzere Bühnenfassung ist eine Zumutung in Textform, die eine sensible Regie braucht. Genau dieses Feingefühl beweise Dennis in Form von "Spielfreude und Hoffnung" in seinen Inszenierungen, die nah an den Figuren verlaufen, findet Dramaturgin Hannah: "Ich glaube, das ist eine super spannende Paarung von diesem sehr harten Sibylle Berg Text und dem, was Dennis als Regisseur mitbringt." Das Stück soll keineswegs "bekömmlich" werden, aber Dennis will auch "die warmen Momente" und die "Freundschaft zwischen den Hauptfiguren" herausarbeiten.
"GRM" steht für den Musikstil Grime, der sich Anfang der 2000er in London entwickelt und dessen Namen soviel bedeutet wie "Schmutz". Dass die Protagonist:innen Grime hören, ist kein Zufall, denn ihr Leben passt nun mal nicht zu "fucking Geigenmusik", wie Berg es im Buch beschreibt. Ganz im Gegenteil: Die Kids Don, Peter, Karen und Hannah wachsen im heruntergekommen Kleinstädtchen Rochdale in England auf und erfahren dort jede Art von Misshandlung, Missbrauch und Verlassenheit – bis sie sich gegenseitig als kleine Gruppe finden und beschließen, nach London zu gehen. Und sie beginnen, eine Liste zu führen, mit den allen Namen derer, die ihnen wehgetan haben, um es ihnen heimzuzahlen.
In der Dortmunder Inszenierung wird unterschiedliche Musik verwendet. Nur Grime als Musikstil zu verwenden, habe das Regieteam vor ein grundlegendes Problem geführt, so Hannah: "Wir sind alles weiße Menschen und Grime ist eine Musik von Schwarzen marginalisierten Jugendlichen aus dem Londoner East End." Was die Inszenierung aber mitnehme, sei dieses "Empowerment" aus dem Grime-Gefühl. Oder wie Dennis sagt: "die Motivation von Grime, etwas zu verändern und auf die Probleme der Gesellschaft aufmerksam zu machen. Dieses 'fuck the system, ich geh' dagegen an'" Die Musik steht immer auch für die Position, die man im gesellschaftlichen System einnimmt.
Sie sind nicht nur 'Opfer' dieser Gesellschaft, sie sind mehr als das Bild, das die anderen von ihnen haben.
Die Inszenierung konzentriert sich stark auf die Entwicklung der Figuren. "Sie sind nicht nur 'Opfer' dieser Gesellschaft", sagt Dennis, "sie sind mehr als das Bild, das die anderen von ihnen haben." Hannah ist sich bewusst, dass Berg als weiße Autorin über teilweise Positionen spricht, die nicht ihre sind: "Da ist in der Erzählung ein Machtgefälle von der Erzählebene her. Und wenn man aus dieser Sprechposition Geschichten von marginalisierten Menschen auf eine deutsche Stadttheaterbühne stellt, geht das schnell schief und wird klischeehaft." Darum haben Dennis und Hannah mit den Schauspieler:innen an einer ganz persönlichen Textentwicklung gearbeitet, die auch eine gewisse Distanz zum Originaltext aufbaut. Bergs Sprache ist schon so gewaltvoll, dass auf der Bühne eine "Schlichtheit" vorherrscht, erklärt Dennis: "Letztlich löst die Sprache alles in meinem Kopf aus."
Sibylle Berg und ich waren uns einig: Die Welt ist scheiße
Bei der Frage, ob es aus dieser dystopischen Welt noch einen Ausweg, eine Lösung oder Hoffnung gebe, lachen Hannah und Dennis. "Sibylle Berg und ich waren uns einig: Die Welt ist scheiße", antwortet er. Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht. Laut Hannah geht es einerseits um die kleinen, zwischenmenschlichen Momente, aber auch um die große Revolution, "darum, wie man Widerstand leisten kann. Es kann ja schon ein Widerstand sein, liebevoll miteinander zu sein oder eine Gemeinschaft zu finden, einzugreifen oder sich zu ermächtigen…" Und auch Dennis meint: "Ich würde ja auch nicht aufgeben und sagen, dann lassen wir das. Irgendwie machen wir trotzdem weiter." Sehr spannend findet er die Entwicklung der Kids, die die Leute auf ihrer Todesliste umbringen wollen – und dann doch davon ablassen: "Irgendwann merken sie, dass es das gar nicht wert ist, weil diese Menschen eigentlich bemitleidenswert sind." Als einer ihrer Todeskandidaten tatsächlich stirbt, "stellt sich keine Genugtuung ein", so Hannah. "Das ist es nicht, was einen weiterbringt."
Mehr zur Autorin
Martina Jacobi wurde in Bern geboren. Sie studiert Musikjournalismus an der TU Dortmund und schreibt als freie Autorin für Online- und Printmedien über Theater, Oper, Konzerte und Neue Musik.
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