"Mit allen Mitteln gegen rechts"
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Interview: Svenja Plannerer
Wie ist die Idee für "Die Gerächten" entstanden?
Murat Dikenci: Die Philosophie von Albert Camus begleitet mich schon seit meiner späten Jugend. Seit mehr als zehn Jahren wollte ich mit dem Drama von Albert Camus "Die Gerechten" arbeiten. Viele persönliche Erfahrungen mit Rechtsradikalen brachten mich zur Frage: Was wäre, wenn marginalisierte Menschen vom Staat nicht mehr beschützt werden? Wen bräuchten wir dann? Nach den Morden der NSU, dem rassistischen Anschlag in Hanau, der Reichsbürger*innen-Bewegung und dem Bekanntwerden rechter Strukturen in der Polizei schien mir ein guter Zeitpunkt gekommen, endlich der Frage nachzugehen: Was wäre, wenn es als Gegenbewegung zur Rechten eine postmigrantische Untergrundorganisation gäbe, die eine Revolte vorbereitet?
Du hast dich dann aber entschieden, eine Stückentwicklung zu machen und nicht den Text von Camus. Warum?
Für mich gab es einfach keine Stückvorlage, die meine Fragestellungen zum institutionellen und gesellschaftlichen Umgang mit rechter Gewalt in einem Theatertext behandelt. Ich wollte meine eigenen Erfahrungen verweben und die Zerrissenheit der politischen Linken thematisieren.
Für mich schien es unmöglich, dem Originaltext den aktuellen Zeitgeist überzustülpen.
Was haben "Die Gerächten" mit "Die Gerechten" von Camus zu tun? Wie unterscheiden sich die Stücke?
"Die Gerechten" war für mich inszenatorisch nicht umsetzbar. Für mich schien es unmöglich, dem Originaltext den aktuellen Zeitgeist überzustülpen. Ich habe mich aber von der Idee des Textes inspirieren lassen, weitere Philosophien von Camus eingearbeitet und meine eigene Version erstellt, die die Vorlage leicht durchschimmern lässt. Einige Figuren haben Ähnlichkeiten, einige Zitate finden sind wieder. Der größte Unterschied ist, dass "Die Gerächten" im Hier und Jetzt spielt – in Deutschland, wo es rechtsradikale Parteien in die Parlamente geschafft haben.
Was hat dich dazu bewogen, ein immersives Format zu wählen?
Es langweilt mich, als Zuschauer lange auf meinem Platz zu sitzen und mich zum Teil "belehren" zu lassen. Daher versuche ich stets neue Formen des Umgangs mit dem Publikum zu finden. Bei "Die Gerächten" lag es auf der Hand, dass die Zuschauer*innen es sich nicht gemütlich machen, sondern Teil der Organisation sein sollen, die gemeinsam darüber nachdenkt, wie eine Revolte aussehen könnte. Die Solidarität, die die Gruppe einfordert, soll direkt im Bühnenraum übertragen werden. Gerade für ein Publikum, das kaum oder noch nie im Theater war, könnte dieses Theatererlebnis wertvoll sein, da es eine andere Rezeptionserfahrung ermöglicht.
Ich hoffe, dass die Zuschauer*innen erkennen, dass eine vollständige Entnazifizierung Deutschlands nie stattgefunden hat.
Was hoffst du, dass die Zuschauer*innen mitnehmen?
Ich hoffe, dass die Zuschauer*innen erkennen, dass eine vollständige Entnazifizierung Deutschlands nie stattgefunden hat und dass es zwingend erforderlich ist, mit allen Mitteln gemeinsam gegen die Gefahr der politischen Rechten in Deutschland vorzugehen.
Wie hast du dich gefühlt, als du erfahren hast, dass du zu "Radikal jung" eingeladen bist?
Ich habe mich gefreut, dass das Thema des postmigrantischen Widerstands und Selbstorganisation ein breiteres Publikum erfährt. Aber in erster Linie habe ich an Mouhamed Lamine Dramé gedacht, der in Dortmund im Alter von nur 16 Jahren von der Polizei erschossen wurde und dessen Geschichte nun auch über Dortmund hinweg auf einer Bühne zu hören ist.
Was stört dich am Theater, wie es aktuell gemacht wird, am meisten? Was sollte sich ändern?
Es regt mich auf, dass die Theaterinstanzen von einem Publikumsschwund sprechen und seit Jahren darüber rätseln, wie man ein junges und/oder postmigrantisches Publikum erreichen kann. Es braucht schlichtweg mehr junge Menschen in Leitungs- und Dramaturgiepositionen, sodass die Nachwuchsförderung und Ausbildung schon auf einer gleichen Hierarchieebene mitgedacht werden können. Vielleicht können wir nicht immer alle Kämpfe gleichzeitig führen, auch wenn unser Ansporn dabei die Intersektionalität sein sollte. Aber sich auf alten Theaterstrukturen auszuruhen, wird irgendwann als Erbe auf uns zurückfallen.
Mehr zur Autorin
Svenja Plannerer geboren 1996, ist Psychologin, Autorin, Kulturjournalistin und sehr neugierig. Ihre letzten Abenteuer führten sie zur Buchbinderei und zur koreanischen Sprache, die sie gerade versucht zu lernen.