"Vertrau dem Prozess"
Datum
Text: Thea Reifler und Phila Bergmann
Zum Glück, sagt Sorour Darabi, habe er*sie im Iran keine klassische Tanzausbildung durchlaufen. Stattdessen arbeitete Darabi als Teil des Invisible Centre of Contemporary Dance und war mitverantwortlich für ein Underground-Festival in Teheran. Schließlich zog Darabi nach Frankreich, um in Montpellier zu studieren. Seither waren Darabis Arbeiten auf dem Festival Montpellier Danse zu sehen, sowie auf Festivals in Belgien und in Griechenland. Hier also die erste Frage:
Thea Reifler: Wir sind es eigentlich nicht gewohnt, Interviews zu führen.
Sorour Darabi: Ich habe das bisher auch nicht so oft gemacht. Es ist ein bisschen verunsichernd, wenn man nicht genau weiß, wer einen interviewt, denn man lernt sich erst im Prozess kennen.
Thea: Wir haben auch dazu eingewilligt, um dich besser kennenzulernen. Bisher haben wir uns bei Festivals verpasst, umso glücklicher sind wir über diese Gelegenheit. Ich fände es spannend, mit dir über Theater zu sprechen. Phila und ich haben nämlich am Institut für angewandte Theaterwissenschaft in Gießen studiert, in einem Studiengang, der Theorie und Praxis zusammenbringen will. Dann haben wir als Regisseur*innen mit Performance und Oper gearbeitet, aber auch in der Bildenden Kunst. 2020 haben wir schließlich die Leitung der Shedhalle in Zürich übernommen und sind so zur Kuration und Künstlerischen Leitung gewechselt. Die Institution ist Teil eines alternativen Kulturzentrums. Dabei arbeiten wir mit Menschen, die zwischen den Disziplinen stehen und in verschiedenen Kontexten arbeiten, wie Du es auch tust. Ich habe Deine Performance sehr gern angeschaut, auch, weil ich es so spannend fand, wie Du mit der Form und dem Kontext von Theater umgehst. Deshalb würde ich gerne fragen, was dir das Theater im Moment bedeutet?
Im Iran war ich ein*e Underground-Künstler*in, und habe dort keine klassische Ausbildung durchlaufen - zum Glück [...]
Sorour: Im Iran war ich ein*e Underground-Künstler*in, und habe dort keine klassische Ausbildung durchlaufen – zum Glück, denn im Studium dort ist vieles nicht erlaubt. Meine frühen Arbeiten war Performance-basiert, und das passte nicht so recht in Räume für Tanz. Es war auch schwierig, das auf Festivals unterzubringen. Mir waren solche Kategorien, die bestimmen, was im Theater oder in einer Tanzinstitution erlaubt ist, eigentlich immer egal. Ich muss immer eine Art Übersetzung vornehmen, denn ich beginne mit einer Idee, die ich umsetzen will, und manchmal ist das eben eine Performance, manchmal eher Tanz – oder etwas ganz anderes. Für dieses Projekt – Mowgli – war das eine Herausforderung. Mir war wichtig, dass es einen Diskurs darum gibt, eine Art Vortrag. Ich musste über einige Dinge sprechen, denn als person of color, als queere Person, die in Frankreich lebt, hatte ich oft Schwierigkeiten damit, wie das Publikum meine Arbeit liest und welche Dinge auf mich projiziert werden. Das ist normal, aber da gibt es eben auch viel Transphobie und Missverständnisse. Dem Publikum fehlen die Codes, oder sie wenden einfach ihre eigenen Ideen an: Dass ich aus dem Iran bin, oder dass ich trans bin. Mir ist wichtig, aktiv an der Konversation teilzuhaben, Worte und konkrete Dinge anzubieten, um den Blick der Menschen auf mich zu dekonstruieren. Dass dieses Projekt theatraler geworden ist, liegt auch daran, wie ich Raum und Text benutzt habe, und so improvisiert es wirken mag, ich bereite immer etwas vor. Die theatrale Qualität ist an einem bestimmten Punkt wichtig und ich habe mich viel mit Theater und Tanz beschäftigt. Mich interessiert nicht so sehr die Technik, oder die Bewegung und auch nicht, wie wir Tanz betrachten oder den Körper und seine Bewegung fetischisieren. Das ist allerdings sehr ausgeprägt in der französischen Kultur.
Phila Bergmann: Weil du sagst, dass dich Bewegung und tänzerische Technik nicht so sehr interessieren, würde ich gerne wissen, woher du deine Inspiration beziehst – für Mowgli, aber auch allgemein.
Sorour: Ich denke, dass Tanz nichts Technisches ist. Ich hatte lange keinen Zugang zu einer Ausbildung. Hätte ich den gehabt, wäre ich sicher technischer in meiner Herangehensweise an Tanz, und würde mich nicht stets selbst hinterfragen, aber jetzt habe ich eben einen distanzierten Blick. Ich denke, im technischen Teil des Tanzens steckt ein faschistisches Element, und die Menschen werden schon in ihrer Ausbildung traumatisiert. Denn jede*r blickt auf jede*n andere*n, alle Bewegungen sind sehr uniform. Das kann gewaltsam sein, wenn man als Tänzer*in in der Gruppe seine Identität aufgeben und sich wie alle anderen bewegen muss. Ich habe die Vorstellung, dass Tanz etwas sehr individuelles ist. Nicht nur, weil ich viele Solo-Arbeiten aufgeführt habe, sondern auch, weil ich denke, dass man das für sich entwickeln muss. Um seinen Körper zu verstehen, muss man die eigene Bewegungsweise verstehen. Es braucht auch mehr Freiheit, zum Beispiel die Freiheit, zu sagen, dass ich heute traurig bin und etwas anders mache. Ich bin eine emotionale Person, das wirkt sich auf den Tanz aus – viel Drama! Manchmal hassen dich die Leute dafür, dass du traurig bist, manchmal hassen sie dich dafür, dass du beim Tanz fällst. Sie scheinen zu denken, dass eine trans-Person keine Trauer auf der Bühne zeigen und erst recht nicht scheitern darf. Ich denke aber, jede*r sollte seine Emotionen ausdrücken dürfen. Es hat ja auch Schönheit, jemanden fallen zu sehen: eine Bewegung, ein Körper. Um deine Frage zu beantworten: Tanz hängt mit meinen Emotionen zusammen. Außerdem inspiriert mich Musik.
Thea: Welche Rolle spielt die Musik im Verlauf Deines Prozesses?
Sorour: Manchmal spielt Musik eine abstrakte Rolle im Prozess, aber es hat eher damit zu tun, einen Affekt zu erzeugen. Das sind für mich die Bilder, aus denen die Bewegungen entstehen, daraus entwickelt sich ein körperlicher Zustand.
Phila: Improvisierst du dann viel?
Sorour: Ja, manchmal. Ich arbeite sehr intuitiv. Wenn sich etwas wichtiges für ein Projekt ergibt, ein Buch, ein Artikel, Musik, dann inspiriert mich das auch. Und dann schlafe ich und ich gehe spazieren, und eines Tages habe ich eine Idee, in der ich all die Dinge entdecke, die ich gelesen und gesehen habe.
Ich habe das Gefühl, dass deine Arbeit Freiheit braucht und in den Zwischenräumen stattfindet, die sich einer Zuschreibung entziehen.
Thea: Dieser Fokus auf den Prozess interessiert mich sehr, auch im Hinblick auf unsere Arbeit in der Shedhalle als "Institution" für prozess-basierte Kunst. Um noch einmal auf die institutionelle Seite des Theaters zu sprechen zu kommen: Wie arbeitest du in diesem System? Ich habe das Gefühl, dass deine Arbeit Freiheit braucht und in den Zwischenräumen stattfindet, die sich einer Zuschreibung entziehen. Wie gehst du damit um, wenn du dich zum Beispiel für eine Förderung bewirbst und einen Text schreiben musst?
Sorour: Am Anfang hat es mich schockiert dass es überhaupt Förderungen gibt, denn ich habe im Iran als Underground-Künstler*in gearbeitet. Dort musste ich nichts erklären, ich habe es einfach gemacht. Der nächste Schock war, als ich im Studium über meine Arbeit schreiben musste. Interessanterweise kann man auch damit spielen: Ich kann meine Enttäuschung über das System, mein Leben in Europa in meiner Stimme ausdrücken. Das befreit und verleiht Selbstvertrauen. Ich vermittle, wie meine Arbeit zu sehen ist. Ansonsten spanne ich den Rahmen anfangs sehr weit, bevor ich überhaupt mit der Recherche beginne, und wenn das Projekt in eine ganz andere Richtung geht, dann ist das normal, schließlich bin ich Künstler*in.
Sichtbarkeit ist immer eine Frage für queere Menschen, auch im Sozialleben. Wenn man in eine Stadt geht, wo man unsichtbar sein möchte, weil es sonst zu gefährlich wäre, zum Beispiel.
Phila: Du stehst in deinen eigenen Arbeiten allein auf der Bühne.. Kannst du erklären, wie du über die Arbeit alleine und im Kollektiv denkst? Wo ist die Verbindung von Prozess, Gemeinschaft und Solo-Vorstellungen?
Sorour: Ich gehe in meiner Arbeit Dingen nach, die mir sehr nahe sind. Deshalb fällt es mir schwer, andere zu bitten, das zu übernehmen. Manchmal performe ich auch Dinge, die man keine*r Performer*in abverlangen könnte. In einer traditionellen Beziehung von Choreograph*in und Tänzer*innen könnten diese Anforderungen problematisch sein. Die Autorität zu haben und so etwas zu verlangen – nicht nett. Ich wollte beide Seiten erfahren, das ist einer der Gründe, weshalb ich oft alleine gearbeitet habe. Außerdem sind die Projekte sehr eng an meinen Körper gebunden, und es ist schwer, das auszulagern. Ich glaube auch nicht an die Trennung von Choreograf*in, Projekt und Performer*in. Ich gelange an Punkte, wo ich die Kontrolle über mein Projekt nicht abgeben kann, ohne die Performer*innen als Instrumente zu benutzen. Für mich war immer eine wichtige Frage: Wie arbeite ich mit anderen? Allmählich lerne ich, zu kollaborieren, und selbst wenn ich solo performe, arbeite ich mit anderen im Prozess.
Thea: Besonders aufgefallen ist mir in Deinem Stück Mowgli das Spiel mit Machtverhältnissen. Du forderst das Publikum. Deine Macht in Mowgli schien darin zu bestehen, als Performer*in Dinge sichtbar und hörbar zu machen, sie aber auch zurückzuhalten. Wann ist für Dich Sichtbarkeit und wann ist Unsichtbarkeit Macht?
Sorour: Sichtbarkeit ist immer eine Frage für queere Menschen, auch im Sozialleben. Wenn man in eine Stadt geht, wo man unsichtbar sein möchte, weil es sonst zu gefährlich wäre, zum Beispiel. Als Überlebensstrategie muss man verstehen, wo man sichtbar sein kann. Mowgli begann damit, dass ich eine zeitgenössische Mythologie für mich entworfen habe, und der Name bezieht sich auf den Track Mowgli von dem französischen Rap-Duo PNL. Denn seit ich besser französisch kann, höre ich ihre Musik. Die Texte sind melancholisch und schön, die Art von Melancholie, wo es auch Licht gibt. Ich habe die Musik gehört, als ich in Paris gelebt habe, was kein angenehmer Ort für queere und trans Personen ist. Um weniger Angst auf der Straße zu haben, hörte ich PNL, Musik von zwei sehr maskulinen Typen. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass sie schwul und nicht out sind – in meiner Fantasie sind sie queere Ikonen. Außerdem habe ich zu Reza Abdohs Arbeit recherchiert, und das war einer der Gründe, weshalb das Projekt theatraler geworden ist. Abdoh ist einer der berühmtesten iranischen Theaterregisseure außerhalb Irans, außerdem war auch er eine queere Ikone. Ich spürte eine Nähe zu seiner Biografie und zu seiner Arbeit. Er war radikal, vielleicht ein bisschen zu sehr. Dann ist da noch Googoosh, eine Diva und eine der wichtigsten zeitgenössischen Sänger*innen – sehr dramatisch und emotional. Auch um sie sollte es in diesem Projekt gehen. Am Anfang stand viel Text, dann habe ich das Stück so bearbeitet, dass die Personen lesbarer werden und es mehr an das Publikum gerichtet ist.
Es ging mir darum, Regeln zu übertreten, und damit zu brechen, wie wir über Sexualität und Gender sprechen.
Phila: Was denkst Du, wann sollte man nett sein und wann muss man auf der Bühne wütend werden?
Thea: Vielleicht auch außerhalb der Bühne!
Sorour: Moment, ihr habt mich eben nach Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit gefragt. Ich habe gemerkt, dass es davon abhängt, ob ich auf der Bühne spreche oder ganz allgemein. Oft werde ich in Interviews nach dem Exil gefragt, aber dieser Begriff gefällt mir überhaupt nicht. Aber als Person, die nirgendwo zugehörig ist, spielt Sichtbarkeit schon eine Rolle. Als Künstler*in wird die Bühne zu meinem Territorium. Wenn man wütend wird, nur um gehört zu werden – das funktioniert meistens nicht. Man kann aber irgendwann das lieb und nettsein benutzen, um wütend zu sein. Das spielt auch eine Rolle in meiner Arbeit. Ich sage immer, was ich sagen muss, aber sanft. So auch in Mowgli. Das findet Widerhall. Jemand beleidigt dich, und du sagst: dankeschön.
Thea: Darin steckt eine Ambivalenz von dem, was gesagt wird uns wie es gesagt wird. Wie funktioniert für Dich beim Performen Sprache als System, und wie funktioniert Bewegung als System?
Sorour: In meinen frühen Arbeiten war Sprache sehr wichtig, und es ging mir darum, Regeln zu übertreten, und damit zu brechen, wie wir über Sexualität und Gender sprechen. Das Theater ist ein System, wo es darum geht, sich den Raum zu eigen zu machen, auch wenn man als Künstler*in irgendwann mit dem Raum selbst spielt und Gebrauch dieses Raums dekonstruiert. So verschiebt sich die Beziehung zum Raum, genauso wie das Machtverhältnis zum Publikum.
Thea: Und das Publikum bekommt dabei die Gelegenheit, alle Ambivalenzen und Komplexitäten zu umarmen! Mir ist übrigens gerade dein T-Shirt aufgefallen, denn da steht: Always trust in the process.
Sorour: Ich wollte das Shirt, weil es etwas über meine transition aussagt. Denn manchmal denken die Leute, ich bin auf dem Weg etwas zu werden, und ich sage: Ich bin im Prozess – vertrau dem Prozess.
Mehr zu den Autor*innen
Phila Bergmann und Thea Reifler arbeiten als Kurator*innen, Künstler*innen, Social Justice Trainer*innen, Lehrpersonen und Forscher*innen im Feld der visuellen Kunst und Performance. Seit dem Jahr 2020 sind sie Direktor*innen der Shedhalle Zürich. Zudem haben sie für die Jahre 2021 und 2022 die künstlerische Leitung des Bone Performance Festivals in Bern inne. Inhaltlicher Fokus ihrer Arbeit liegt auf der Schnittstelle von Diskursen rund um intersektionalen Queer- und Ecofeminismus, Science-Fiction und Social Justice.