Wut, Groll, Schrecken, Traurigkeit, Verlangen - und Glück!
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Interview: Elisabeth Luft
Stef van Looveren, nach Ihrem Studium in Antwerpen und London leben und arbeiten Sie jetzt als multidisziplinäre:r Künstler:in in Antwerpen. Womit beschäftigen Sie sich?
Im Mittelpunkt standen bei mir schon immer der Mensch und die etablierten Marker unserer sogenannten Identität. Wie sind diese Merkmale entstanden? Wie äußern sie sich und was sind die Folgen für uns und unsere Mitmenschen? Ich habe in der bildenden Kunst angefangen und vor allem mit Video und Foto gearbeitet. Beides waren schon immer großartige Medien, um die Performativität unseres Verhaltens darzustellen und zu untersuchen, wie wir uns innerhalb dieser Rahmenbedingungen – unserer Identitätsmarker – bewegen. Während ich das künstlerisch immer intensiver untersuchte, wurde Video zu meiner wichtigsten Ausdrucksform. Auch, weil ich mich damit am Übergang zur Performance bewegen konnte. Diese Grenze interessiert mich aktuell sehr.
Wie hat sich Ihre Arbeitsweise dann weiterentwickelt?
Anfangs habe ich meine Performances in Videoinstallationen übersetzt. Für mich war es ein Werkzeug, mit dem die Dinge durch einen Filter erfahrbar wurden. Dank dieses Filters befanden sich die Performer:innen innerhalb eines sicheren Raums. Gleichzeitig war es für mich ein angenehmer Arbeitsplatz, an dem ich eng mit Menschen zusammenarbeiten konnte. Ich konnte selber entscheiden, wann ich diesen sicheren Raum verlasse und die Verletzlichkeit der Performer:innen zeige. So entstanden zunächst Arbeiten, in denen das Publikum den Mitwirkenden zwar sehr nahekommt, aber die direkte Wirkung der Körperlichkeit ausbleibt. Beide Seiten befinden sich also in einem Schutzraum.
Die Atmosphäre und die Energie zwischen diesen beiden Räumen waren so besonders, dass ich plötzlich das Gefühl hatte, wir brauchen ein Publikum.
2018 entstand Ihre Videoarbeit "Radical Hope". Was veränderte sich?
Damals wuchs in mir der Wunsch, den Schutzraum zu verlassen. Dadurch wurde "Radical Hope" eine Vorstudie zur Live-Performance: 30 Performer:innen agierten in einem geschlossenen White Cube. Die Kameraperson war selbst als Performer:in dabei und filmte währenddessen. Es gab also kein Live-Publikum, die Darsteller:innen waren ganz für sich in diesem Kokon. Jenseits dieses Raums waren aber viele Leute involviert, für Maskenbild und Kostüm, Technik und Organisation. In diesem Sinne gab es doch eine kontinuierliche Kommunikation zwischen dem Innen und dem Außen. Die Atmosphäre und die Energie zwischen diesen beiden Räumen waren so besonders, dass ich plötzlich das Gefühl hatte, wir brauchen ein Publikum.
Was genau war denn das Besondere?
In der Arbeit sollte es um Wut, Groll und Schrecken, um Traurigkeit, Verlangen und Glück gehen. Diese sechs Gefühle sind deshalb so spannend, weil sie oft entweder aus Angst vor Chaos oder aus radikaler Zukunftshoffnung entstehen. Das war alles, was die Performer:innen vorher wussten. Besonders war, wie diese Gefühle dann während der Aufnahmen in der Gruppe entstanden und welche Intensität sie bekamen. Die Performer:innen bewegten sich im Kreis durch den Raum und fingen an, sich gegenseitig die Kleider vom Leib zu reißen. Kräftig, aber nicht gewalttätig. Es war so, als würde man aktiv etwas abreißen und loslassen.
Überall auf der Welt entstehen diese kollektiven Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen.
Was war die Idee dahinter?
Alles, was ich dazu vorbereitet hatte, basiert auf der Idee des Erscheinungsraums, über den Hannah Arendt geschrieben hat: Ein Gefühl oder ein Wunsch wird für eine Gruppe oder die Gesellschaft real. Das wird bemerkt und dann zu etwas, nach dem gesucht und auf das reagiert wird. Wichtig ist, dass es eine kollektive Sache ist: Wenn wir zu einer Party gehen, treffen wir uns aus einem bestimmten Grund. Auch bei einer Beerdigung oder einer Demonstration ist das so. Menschen kommen zusammen und haben eine bestimmte Einstellung zu Dingen. Überall auf der Welt entstehen diese kollektiven Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen. Oft kann die Welt anhand einer Ansammlung von Körpern sehen, dass dort etwas passiert – und die Gefühle oder Wünsche der Gruppe werden sichtbar. Als die Performer:innen bei unseren Aufnahmen begannen, sich die Kleider vom Leib zu reißen, wurde mir das Medium Video zu eng, ich wollte, dass ein Publikum diesen Moment direkt erleben kann.
Ihre Performance "Radical Hope – Eye to Eye" feierte dann im April 2022 Premiere. Was ist anders als in der Videoarbeit?
Ich habe schnell festgestellt, dass die Installationen, die ich für Video oder Foto formte, und die Requisiten, die ich dafür nutzte, auch unabhängig voneinander funktionieren. So wurde die Skulptur zu einem großen Teil meiner künstlerischen Praxis. Bei "Radical Hope – Eye to Eye" ist all das in einem intimeren Rahmen zu erleben: Es gibt sechs Installationen, durch die sich das Publikum und die sieben Performer:innen bewegen. Das Tempo kann man dabei ganz individuell wählen. Zum Beispiel gibt es ein Förderband, auf dem ein Spektrum an Genitalien zu sehen ist, von weiblichen über intersexuelle bis zu männlichen Genitalien. In ihrer Mitte befindet sich ein Körper, der völlig geschlechtslos ist. Es ist wie in einer Fabrik: Jedes Genital hätte unterschiedliche Folgen für diesen Körper. Man könnte also fragen: Warum legen wir so viel Wert auf bestimmte Farben und Formen? Warum erzeugen sie diese spezifische Bedeutung? Und warum ist all das in jedem Teil der Welt anders?
Und welche Gefühle stehen hier im Vordergrund?
Es geht um Trauer, Wut und Verlangen, um Glück, Groll und Terror. Sie werden an den sechs Installationen mit verschiedenen Identitätsmerkmalen verbunden: Wähle ich beispielsweise Sex oder Genital als Identitätsmarker und verbinde sie mit Wut, wirft das neue Fragen auf. Dazu nutze ich die Klänge, Bilder und emotionalen Codes, mit denen wir aufgewachsen sind. Ich liefere die Zutaten, bringe Videos und Bilder, Skulpturen und Performances in ein bestimmtes Verhältnis. Die Prägungen, Erfahrungen und Wahrnehmungen der Zuschauer:innen und eine Menge Funkeln tun ihr übriges. Voilà!
Mehr zur Autorin
Elisabeth Luft lebt und arbeitet in Köln als freie Autorin, Kultur- und Theaterjournalistin (u.a. WDR, DLF, Theater der Zeit). Sie studierte Germanistik, Medienkulturwissenschaften und Theaterwissenschaft in Köln, Rom und München. 2021-2022 war sie Chefredakteurin bei kritik-gestalten. Sie hostet den Podcast "Wozu das Theater?", ist in unterschiedlichen Jurys tätig und leitet Blogredaktionen bei Theaterfestivals.
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