Dschinns

Das wacklige Konstrukt Familie

Die Regisseurin Selen Kara tritt im Herbst ihre Ko-Intendanz am Schauspiel Essen an. Schön, dass sie vorher noch nach München kommt – mit "Dschinns" nach Fatma Aydemirs Roman, der die Geschichte einer kurdisch-türkischen Familie erzählt.

Text: Shirin Sojitrawalla

Einmal an diesem Abend ist es so still, dass man die berühmte Stecknadel fallen hören könnte. Gespenstisch still. Dazu rollt Mutter Emine, gespielt von der Schauspielerin Almut Henkel, einen kleinen Teppich auf der Bühne aus und beginnt nach allen Regeln ihrer Religion zu beten. Ein geradezu heiliger Theatermoment. Das Gespenstische daran fügt sich gut zum Titel "Dschinns", Geisterwesen also, die in unseren Erinnerungen ihr Unwesen treiben und dunkle Familiengeheimnisse ausleuchten.

Die Regisseurin Selen Kara fand genau diese Gebetsszene zuerst ein bisschen "tricky" und hat sich gefragt, wie sie das mit einer nicht Türkisch sprechenden Schauspielerin realistisch inszenieren solle. Zum Glück kannte Kara eine Frau vom Reinigungsdienst des Mannheimer Theaters, eine gläubige Muslima mit Kopftuch, und fragte sie, ob sie mit der Schauspielerin das Gebet mal durchgehen könne. Gesagt, getan, die Frau hat Almut Henkel quasi Nachhilfeunterricht gegeben, sie eingewiesen. Zweimal habe man sich getroffen, bis alles saß.

Selen Kara © Dome Darko
Quoten als nötiges Instrument

Die Schauspielerin Almut Henkel ist an diesem Abend die einzige "Biodeutsche" auf der Bühne, was auch daran liegt, dass sich die Autorin der Romanvorlage, Fatma Aydemir, ausbedungen hat, die Hälfte des Ensembles möge Rassismuserfahrungen mitbringen, also einen sichtbaren Migrationshintergrund haben. Das hat sie bei der Theateradaption ihres ersten Romans "Ellbogen" auch schon so gehandhabt. Auch diesen Roman brachte Selen Kara am Nationaltheater Mannheim zur Uraufführung (2020). Mit Quoten hat sie kein Problem, sieht sie vielmehr als nötiges Instrument. Inzwischen sind sie und Aydemir befreundet, und die Autorin war auch bei Proben zu "Dschinns" zugegen.

Eine göttliche Stimme

Ihr vielfach ausgezeichneter und auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2022 gewählter Roman erzählt aus unterschiedlichen Perspektiven von der kurdischen Familie Yilmaz. Der Vater Hüseyin stirbt gleich zu Beginn an einem Herzanfall, nachdem er gerade nach einem harten Arbeitsleben als so genannter Gastarbeiter aus Deutschland nach Istanbul zurückgekehrt ist. Dort möchte er seinen Lebensabend verbringen. Auf der Bühne ist er nicht präsent, eine irgendwie göttliche Stimme, bei der es sich auch um einen Dschinn handeln könnte, spricht über ihn und sein Leben. Danach kommen die anderen mit ihren jeweils sehr eigenen Erfahrungen in eigenen Kapiteln zu Wort, seine Kinder und am Schluss auch seine Ehefrau.

Alle erzählen von Fremdheitsgefühlen, wobei sie sich auf unterschiedliche Weise in Deutschland eingerichtet haben oder eben auch nicht. Anhand der einzelnen Figuren akzentuiert Aydemir unterschiedliche gesellschaftspolitische Themen: Rassismus, Feminismus, Sexismus, Klassismus, Homophobie, Transgender. Für Selen Kara ist die Häufung dieser Themen auch Ausdruck der Vielschichtigkeit des Romans. "Ich kann da gut andocken, und mich interessiert die Komplexität dieser Familiengeschichte sehr."

 

"Dschinns" © Maximilian Borchardt
Keine Lust auf Schubladen

Geboren wurde Selen Kara 1985 im nordwestfälischen Velbert als Tochter türkischer Einwanderer. Während ihres Studiums der Theater- und Medienwissenschaft in Bochum kam sie eher zufällig ans Theater, als sie am Schauspiel Bochum, damals unter dem Intendanten Anselm Weber, für einen türkischen Regisseur bei einer "Faust"-Inszenierung als Dolmetscherin fungierte. Damals hat sie sofort Feuer gefangen. Erwachsene Menschen, die sich stundenlang über Goethe und Nietzsche unterhielten und hochschießende Emotionen kurz vor der Premiere: "Ich war total fasziniert von der Probenarbeit und dem ganzen Drumherum", erzählt Kara, die aus einer Arbeiterfamilie stammt.

Danach war sie in Bochum als Regieassistentin beschäftigt; 2014 übernahm sie mit Dea Lohers "Blaubart – Hoffnung der Frauen" ihre erste Regiearbeit, ebenfalls am Schauspiel Bochum. Dort kam dann auch ihr überregionaler Hit "Istanbul" zur Uraufführung, ein gemeinsam mit ihrem Mann Torsten Kindermann und Akin E. Şipal entstandener Sezen Aksu-Liederabend. Ihre erst zweite Regiearbeit, die danach noch an weiteren Theatern lief und immer noch läuft. Ein unglaublicher Erfolg, der aber gleich zwei Befürchtungen von Kara nährte: "In der Türkei- oder der Liederabend-Schublade" stecken zu bleiben. Nach ihrer Inszenierung des Romans "Ellbogen", der vom wilden Leben einer Tochter türkischer Einwanderer erzählt, inszenierte sie zum Ausgleich in der nächsten Spielzeit einen Shakespeare. Inzwischen scheint die Gefahr, in einer bestimmten Schublade zu stecken, gebannt. Mit "I love you, Turkey!", das am Staatstheater Nürnberg entstand, wurde sie 2020 das erste Mal zu Radikal Jung eingeladen.

Es ist eine Familiengeschichte, und wenn man jeder Figur gerecht werden möchte, muss man die unterschiedlichen Perspektiven und Themen drin lassen
"Dschinns" © Maximilian Borchardt
Kill your darlings

Für die Komplexität des Buches lässt sich Kara Zeit, auch wenn sie sich für ihre Spielfassung von vielem verabschieden musste, um den 350 Seiten langen Roman in drei Stunden zu erzählen. Immer nach dem Motto "Kill your darlings". Zu kurz durfte es aber auch nicht werden: "Es ist eine Familiengeschichte, und wenn man jeder Figur gerecht werden möchte, muss man die unterschiedlichen Perspektiven und Themen drin lassen." Es sei ihr deswegen schon schwer gefallen, sich von einigen Dingen zu verabschieden, sagt sie und fügt hinzu: "Nicht jeder tolle innere Monolog im Roman funktioniert auch auf der Bühne." Für den Abend wurden Kapitel umgestellt und neue Texte hinzugenommen, und wie bei Romanadaptionen üblich, zeigte sich erst während der Proben, was der Bühne wirklich standhält und was nicht, so dass die Spielfassung erst nach und nach entstand. Weitere Unwägbarkeiten kamen hinzu, wegen immer neuer Coronafälle musste die Premiere mehrmals verschoben werden, und sechs Wochen Probenzeit sind für eine Arbeit mit vielen Gästen nicht gerade üppig bemessen. Kurz vor der Premiere kam dann noch eine Umbesetzung hinzu. Kurzum: keine traumhaften Bedingungen, was man der Inszenierung aber nicht ansieht.

 

Zurück zu "Dschinns". Karas Leib-und Magenbühnenbildnerin Lydia Merkel hat wieder die Bühne gestaltet. Das wacklige Konstrukt Familie stilisiert sie als Fertighaus, das auch als Projektionsfläche für all die Träume und Sehnsüchte dient, die ein Zuhause verspricht. Zu Beginn ist es bloß eine Fassade – von einer großen schwarzen Schleife, die auch ein Trauerband sein könnte, zusammengehalten wie ein Geschenk. Nicht zuletzt erzählt der Abend von Schmerz und Verlust. Erst nach und nach setzt sich das Haus zusammen, Wände kommen hinzu, und am Ende senkt sich ein Dach herunter. Ein Zuhause entsteht.

Mit wenigen Requisiten und Mehrfachbesetzungen ihrer sechs Darsteller*innen stellt Kara die markantesten Szenen des Romans im Spannungsfeld zwischen Tradition und Emanzipation nach. Mit Licht- und Musikeinsätzen setzt sie die unterschiedlichen Zeitebenen, Orte und Stimmungen voneinander ab. Dabei versteht es die Regisseurin, mit wenigen Handstrichen unterschiedliche Atmosphären heraufzubeschwören. Wie Aydemirs Roman lebt auch ihre Inszenierung von den darin offenbarten Temperaturunterschieden. Ein Wechselbad der Gefühlslagen: Unterhaltsam und zu Herzen gehend.

Mehr zur Autorin

Shirin Sojitrawalla © Alexa Sommer

Shirin Sojitrawalla studierte Germanistik, Komparatistik und Politikwissenschaften und absolvierte danach ein Redaktionsvolontariat bei der F.A.Z. Seit dem Jahr 2000 arbeitet sie als freie Journalistin mit den Schwerpunkten Theater und Literatur für verschiedene Zeitungen und Radiostationen (taz, Theater der Zeit, nachtkritik.de, Deutschlandfunk, SWR u.a.). Von 2016 bis 2020 war sie Jurorin des Berliner Theatertreffens, seit Herbst 2021 gehört sie der Jury des Preises der Leipziger Buchmesse an. Sie lebt in Wiesbaden.