Ein Portrait von Christian Stückl

"Die Schauspieler müssen einen Schmerz behaupten, den sie selbst nicht kennen."

Im Gespräch mit Christian Stückl über seine Inszenierung von "Bilder von uns" von Thomas Melle

Interview: Julia Rothhaas

Herr Stückl, ab dem 30. März bringen Sie das Stück "Bilder von uns" von Thomas Melle auf die Bühne. Um was geht es darin?

Der Autor Thomas Melle versucht mit diesem Stück das, was vielfach in den Klosterschulen passiert ist, nämlich der Missbrauch von Kindern, aufzuarbeiten. Jesko Drescher, ein junger Mann, bekommt von einem anonymen Absender ein Foto auf sein Handy geschickt. Darauf ist er als Zwölfjähriger zu sehen, nackt. Drescher kann sich zwar nicht an die genauen Umstände erinnern, aber er weiß, wo es entstanden ist: in dem Internat, auf dem er als Kind war. Das Bild hatte Pater Stein von ihm gemacht. Langsam kommt alles, was er über viele Jahre erfolgreich verdrängt hatte, wieder ans Licht.

Was macht Drescher mit dieser Erinnerung?

Er kontaktiert ehemalige Mitschüler – auch um herauszufinden, wer ihm dieses Foto geschickt hat und warum. Dabei erfährt er, dass auch sie ähnliche Bilder bekommen haben. Sie stoßen dann auf eine weitere Gemeinsamkeit aus der Vergangenheit: Sie alle waren der "Liebling" von Pater Stein.

Plakatmotiv "Bilder von uns"
Es gibt nicht den einen Weg, wie man mit so etwas Gravierendem umgeht. Es gibt weder ein Richtig noch ein Falsch. Jeder muss seinen eigenen Umgang damit finden.

Kommt es zu einer Aussprache mit dem Pater?
Nein, Melle erzählt auch keine Details vom Missbrauch der Jungs. Vielmehr geht es um die Erinnerungen daran und was jeder daraus macht. Thomas Melle hat mal gesagt, es gibt nicht den einen Weg, wie man mit so etwas Gravierendem umgeht. Es gibt weder ein Richtig noch ein Falsch. Jeder muss seinen eigenen Umgang damit finden.

Wieso haben Sie sich für dieses Stück entschieden?
Das war eher Zufall. Aber als ich das Stück las, fiel mir wieder alles zum Missbrauchsskandal im Kloster Ettal ein, das unweit von Oberammergau liegt, meinem Heimatort. Ich war dort eine Weile Schüler, mir selbst ist nie etwas passiert, aber es gibt genug schreckliche Geschichten. Der Bruder meines Schwagers etwa hat seinen Missbrauch an dieser Schule zwanzig Jahre für sich behalten. Nachdem 2010 alles ans Licht kam, fuhr er nach Ettal und konfrontierte die Verantwortlichen. Zum "Trost" wurden ihm ein paar tausend Euro geboten, für psychiatrische Behandlungen. Daraufhin hat er sich das Leben genommen, ein verheirateter Mann mit drei Kindern. Das hat uns alle stark getroffen. Auf seiner Beerdigung schloss eine Rede mit folgendem Satz: "Und sie machen weiter, die Schweine". An dem Tag, an dem wir übrigens mit den Proben von "Bilder von uns" angefangen haben, stellte sich heraus, dass unser Pfarrer in Oberammergau kinderpornografisches Material auf seinem Rechner gespeichert hatte. Er wurde vom Bischof seines Amtes enthoben. Es hört einfach nicht auf.

Das Schwierigste aber ist: Die Schauspieler müssen einen Schmerz behaupten, den sie selbst nicht kennen.

So ganz zufällig ist die Wahl des Stückes also doch nicht.
Für mich war und ist das alles ganz schlimm. Auf die Frage, wieso er nie eingeschritten sei, sagte ein Pater aus Ettal mal zu mir: "Ja, der Pater Rupert ist in der Liebe zu den Buben etwas zu weit gegangen." Wir Kinder haben damals schon verstanden, dass es nicht in Ordnung ist, dass ein Pater mit uns allen nackt duschte. Wir wussten: Das ist schräg. Aber wir konnten es nicht einordnen. Im Stück passieren übrigens ähnliche Dinge wie in Ettal. Der Pater in der Dusche taucht auch bei Melle auf.

Welche Schwierigkeiten bringt ein Stück mit einem so unfassbaren Thema mit sich?
Wenn man etwas wie sexuellen Missbrauch auf der Bühne bespricht, darf es beim Machen eigentlich keine Zurückhaltung geben. Aber ich habe das Gefühl, dass ich dieses Stück nicht so hart auf die Bühne bekomme, wie ich es gern hätte. Das Schwierigste aber ist: Die Schauspieler müssen einen Schmerz behaupten, den sie selbst nicht kennen. Dafür eine Form zu finden, geht im Grunde gar nicht.

 

Christian Stückls Inszenierung von "Bilder von uns" von Thomas Melle ist ab 30. März 2023 im Münchner Volkstheater zu sehen.