Play Woyzeck
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Autor: Marvin Wittiber
"Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten." – Unabhängig davon, ob nun Albert Einstein, Benjamin Franklin oder doch einem alten Chinesen diese Worte erstmals über die Lippen gekommen sind: Sie beschreiben auf treffende Art und Weise den Frust und das in sich zusammenfallende Selbstwertgefühl, das einen überkommt, wenn man ein Problem wieder und wieder mit der gleichen Methode versucht zu lösen und dabei unweigerlich scheitert. Wie gut wir mit den daraus resultierenden psychischen Spannungen umgehen können, hängt von unserer Frustrationstoleranz ab.
Wie ein erhöhtes Frustrationslevel in reale Gewaltbereitschaft umschlagen kann, hat Regisseur Jan Friedrich in seiner Inszenierung von Georg Büchners Dramenfragment "Woyzeck" am Theater Magdeburg untersucht. Dabei hat er die Lebenswelt des titelgebenden Protagonisten in eine atmosphärische, fluoreszierend-leuchtende Videospiel-Welt versetzt und lässt uns durch Woyzecks Augen auf die (Spiel-)Welt blicken. Seit Ende Januar steht die Inszenierung in Magdeburg auf dem Spielplan. Nun wurde die Inszenierung zum Radikal jung Festival 2023 nach München eingeladen und wird am 5. Mai im Volkstheater gezeigt.
Fast jeden dritten Tag stirbt eine Frau hierzulande - getötet von ihrem Partner oder Ex-Partner.
Dass sich bei Büchner Woyzecks Aggression gegen seine Freundin richtet, ist hinreichend bekannt. Der Mord an Marie schwebt wie ein Damoklesschwert über dem Stoff und wird in heutigen Inszenierungen vielfach ins Zentrum gesetzt. Kein Wunder: Fast jeden dritten Tag stirbt eine Frau hierzulande – getötet von ihrem Partner oder Ex-Partner. In Jan Friedrichs Inszenierung wird der Femizid nicht explizit dargestellt, soviel sei verraten. "Wir wollten thematisieren, wie Gewaltbereitschaft entsteht, wo sie herkommt – ohne sie dabei zu entschuldigen. Welche Rolle spielen Chancenungleichheit, Armut und eine frustrierende Umwelt? Und wann münden sie in realer Gewalt?" sagt Friedrich. "Denn Woyzeck ist erst einmal in einer Welt gefangen, die ihm aufgrund seiner prekären Lage nur begrenzte Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stellt." Im Original zeigt sich die Herabwürdigung von Woyzeck vor allem auf personaler und institutioneller Ebene, durch Erniedrigungen, denen er sich als einfacher Soldat ohne Arbeit ausgesetzt sieht. Friedrich rückt vor allem die gesellschaftliche und strukturelle Ebene in den Fokus: Das Leben in einer kapitalistischen Welt, in der zu aller erst Geld für die Familie beschafft werden muss, um ihre Grundbedürfnisse (Nahrung, Wasser, ein Dach über dem Kopf) zu erfüllen. Doch allein dies wird für Woyzeck schon zu einer schier unlösbaren Aufgabe.
Sprache und Körper sind in ihrer Form klar voneinander getrennt.
Geschickt verwebt Friedrich die Handlung des Originals mit der Gaming-Welt – Geld zu besorgen wird für den Spieler zur ersten (und einzigen) Quest. Aus der Ego-Perspektive bewegt der Spieler Woyzecks Figur durch die düstere Spielwelt. "Die Kostüm- und Bühnenbildästhetik mit fluoreszierenden Farben, dem Schwarzlicht, der Maske und den Overalls war ziemlich aufwendig", so Friedrich. "Das war ein richtiges Abenteuer, weil die Farben unter normalen Lichtverhältnissen natürlich ganz anders aussehen, als wenn sie durch das Schwarzlicht zum Leuchten gebracht werden. Das wird schnell zu bunt oder technomäßig. Am Ende ist es uns aber gelungen, eine gespenstische Atmosphäre mit starken Farbkontrasten zu kreieren."
Mit wenigen Elementen lässt Friedrich, der auch für das Bühnenbild verantwortlich zeichnet, auf der Bühne immer wieder neue Räume entstehen. Die Body-Cam, die um die Brust von Woyzeck-Darsteller Philipp Kronenberg geschnallt ist, fängt aus verschiedenen Perspektiven den Raum ein, die Aufnahmen werden auf eine Leinwand projiziert. Es entstehen Szenerien einer Bushaltestelle, eines Waldes, eines Parkplatzes, eines (Drogen-)Labors in einem Container und einer Verschwörungstheoretiker-Höhle in einem Röhrenbunker. Inspirieren ließen sich Friedrich und sein Videokünstler Nico Parisius, die beide auch privat gerne zum Controller greifen, bei der Gestaltung von Videospielen: "Wir hatten mehrere im Kopf, aus denen wir einzelne Elemente in das Inszenierungskonzept eingebaut haben. Am nächsten heran kommen das Indie-Horror-Game ‚Slender‘, in dem man sich nachts in einem dunklen Wald umherbewegt und versucht, dem ‚Slender Man‘ zu entkommen, sowie das Rollenspiel ‚Cyberpunk 2077‘, das sich auch durch die Ego-Perspektive, einen dialogischen Aufbau und Multiple Choice Aktionsoptionen auszeichnet", erklärt Friedrich.
Dass Friedrich Puppenspiel an der HfS Ernst-Busch in Berlin studiert hat, merkt man der Körperlichkeit seiner Spielenden an. "Die animierte Spielweise der Figuren in Videospielen kommt dem Maskenspiel schon sehr nah. Es ist wie Maskenspiel ohne Maske", erläutert er. "Jede Figur hat ein kleines, festes Repertoire an charakterisierender Mimik und Gestik, die sich wie eine Animation in einer Endlosschleife wiederholt. Dafür haben wir uns angeschaut, wie eine Animation in einem Videospiel überhaupt aufgebaut ist, und haben versucht, dieses Prinzip auf reale Menschen zu übertragen." Sprache und Körper sind dabei in ihrer Form klar voneinander getrennt. "Das erzeugt einen ganz besonderen Live-Moment, wenn man die Schauspielenden an den Bühnenseiten an den Mikrofonen beobachten kann, wie sie die Figuren ihrer Kolleginnen und Kollegen sprechen und interpretieren." Durch das Zusammenspiel dieser Komponenten, der Formstrenge und der konsequenten Reduktion im Bewegungsapparat der Figuren gelingt es, die simulierte Welt auf der Bühne spiel- und für die Zuschauenden erfahrbar zu machen.
Im Laufe der Inszenierung verschwimmen dabei die Ebenen, Spiel und Realität lassen sich irgendwann nicht mehr voneinander unterscheiden. Friedrich erzählt so auf bestechend klare Art und Weise und mit einem gesamtgesellschaftlichen Blick von der Frustration eines Menschen, der sich in einer Welt bewegt, in der nicht nur kein sozialer Aufstieg möglich ist, sondern es auch keinen Ausweg, keine Exit-Strategie gibt.
Mehr zum Autor
Marvin Wittiber, geboren 1998, studierte Sozialwissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Er arbeitet als Regieassistent, Regisseur und freier Autor und ist seit 2020 Juror für das Bundestreffen Jugendclubs an Theatern.
Das Radikal jung Festival 2023 wird in Kooperation mit der Jungen Bühne unter der Leitung von Anne Fritsch von jungen Autor*innen und Kulturjournalist*innen begleitet! Täglich erscheinen neue Artikel auf unserem Blog. Blickt in Interviews, Vorberichten, Festivaltagebüchern oder Videos hinter die Kulissen des Festivals!