Pop auf Moll gedreht
Datum
Text: Christian Rakow
Eine solche Geschichte möchte man gern öfter erzählen. Eine Geschichte von selbstbestimmtem kreativen Handeln, das von Erfolg gekrönt ist. Da hat ein Intendant einen guten Riecher: "Man müsste eigentlich mal was zu Britney Spears machen", sagt er und fixt mit der Idee eine der herausragenden jungen Spielerinnen seines Hauses an. Der Intendant heißt Oliver Reese, Leiter des Berliner Ensembles, und seine Spielerin Sina Martens. Es ist die Zeit, als Britney Spears mit ihrem Vormundschaftsprozess in den Medien ist; das Jahr 2020, die Theater sind im Corona-Lockdown, man sucht nach Monologen, um unter den Pandemiebedingungen in kleinen Teams weiterarbeiten zu können.
Sina Martens stiefelt los, abseits der Betriebspfade ihres Hauses, und sucht sich eine Gleichgesinnte in befreundeten Künstlerkreisen: Lena Brasch, lange Jahre Regieassistentin an verschiedenen Berliner Häusern, inzwischen auch als Literaturagentin tätig. Und beide aktivieren ihr Netzwerk, holen sich Autor*innen von überall, fürs Theater neue Namen – Laura Dabelstein, Miriam Davoudvandi und Fikri Anıl Altıntaş –, und bauen sich einen Soloabend zusammen: "It’s Britney, Bitch!" Im Januar 2022 kommt er am BE heraus, in der kleinsten Spielstätte "Werkraum", wird schnell zum Geheimtipp. Und als Corona wiederum die Reihen der Theater lichtet und eine Produktion im Haupthaus ausfällt, rückt "It’s Britney, Bitch!" in den großen Saal, vor 700 Zuschauer. Ein Box Office Hit, geboren aus dem Herzen des Künstlerkiezes.
Ich will einfach nur mein Leben zurück.
"Ich bin nicht hier, um jemandes Sklave zu sein", lautet die zentrale Aussage im Eröffnungstext des Abends. Sina Martens spricht das Intro fest, klar, kontrolliert. Langsam, ganz langsam baut sie mehr Emotionalität auf, lässt den Druck spürbar werden, der wie in einem Dampfkessel unter der so sorgfältig gewogenen Rede brodelt. Sie spricht den Text, den Britney Spears im November 2021 vor Gericht als Statement gegen die Vormundschaft ihres Vaters vortrug, ein erschütterndes Zeugnis der Normierung durch eine männlich geprägte Welt, durch den Vater, durch das millionenschwere Musikmanagement, durch die Öffentlichkeit. "Ich bin depressiv", sagt Spears, und: "Ich will einfach nur mein Leben zurück." Martens schlüpft nicht geradezu in Spears’ Rolle, sie hält sie vielmehr behutsam auf Distanz, zeigt sie her. Zur Begutachtung.
In schwarzem, sportivem Dress unter einer Britney-typischen blonden Glatthaar-Perücke spielt sie uns frontal an. Von einem mit Glitzer-Vorhängen eingekleideten Spielpodest aus, das irgendwie showmäßig wirkt, aber wohltuend unkonkret bleibt, es könnte das Gerippe einer Garderobe sein oder einer Lapdance-Bühne (Bühnenbild: Janina Kuhlmann). Es ist eine "Form von Kopfraum", sagt Sina Martens, als ich sie und Lena Brasch zum Gespräch über die Inszenierung am BE treffe. Über die Dauer ihres Abends wird dieser "Kopfraum" von der Solistin zerlegt und abgebaut. Aber nicht, um damit eine zunehmende Zerrüttung zu dokumentieren, sondern ganz im Gegenteil: als Akt einer Befreiung. Alles Einengende und Hindernde wird abgeräumt. Der Abend feiert die Selbstermächtigung, das "Empowerment", wie es im einschlägigen emanzipatorischen Vokabular heißt.
Um Britney in ihrer Individualität geht es dabei weniger als der Titel es vermuten lässt. Die Kennerin wird Spuren der Biografie ausmachen: den Weg des amerikanischen Vorzeigemädchens, als das sie gerade elfjährig einem breiten Fernsehpublikum in den 1990ern im "Mickey Mouse Club" bekannt wird. Kurz darauf – und immer noch nicht volljährig – steigt sie zur "Princess of Pop" und kommerziell erfolgreichsten Sängerin aller Zeiten auf. Skandale säumen ihre Karriere ab den frühen Nuller Jahren, 2007 rasiert sie sich die Haare ab, was als Zeichen fortgeschrittener geistiger Zerrüttung gelesen wird. Spears kommt unter die besagte Vormundschaft ihres Vaters. Die "Free Britney"-Bewegung begehrt in den sozialen Medien dagegen auf. Inzwischen ist Britney in dritter Ehe mit dem Model und Gelegenheitsschauspieler Sam Asghari verheiratet. Diese Wendung liegt bereits nach dem Theaterabend.
Aber Britneys Biografie dient Lena Brasch und Sina Martens in ihrer Stückentwicklung eher als Sprungbrett in Diskurse, die allgemeiner über weibliche Rollenzuschreibungen und Außenwahrnehmungen sprechen. Das Gros der Texte stammt von Laura Dabelstein und mäandert lässig von der Titelheldin weg. Von der legendären Haar-Rasur 2007 springt die Rede weiter zur "No Doubt"-Sängerin Gwen Stefani und ihren kulturellen Aneignungen von Reggae mit Rastalocken bis zur Heimkehr in den Schoß des Country-Rock, ehe sie sich allgemein Gedanken über Haare und das Berührt- und Gedeutetwerden durch Fremde macht. Wer spricht hier? In welche Rolle schlüpft Sina Martens? Teils meint man von ihr eine an Spears orientierte Persona zu erleben, teils nimmt sie einfach eine unbestimmte, exemplarische weibliche Haltung ein. Mitunter scheint auch das Schauspielerin-Ich durch, wenn Martens darüber witzelt, wie sie – an den Vorgaben des männlich geprägten Dramenkanons vorbei – gern einen Shakespeare-Helden geben würde. "Ich schwöre, ich wäre so ein richtig geiler Richard." Berlins Ober-Richard-Darsteller Lars Eidinger, King of Machismo, kriegt auch gleich einen Seitenhieb mit.
"Bin ich schon wieder von Britney weg? Zurück zu wir, eh… mir. Das ist die Britney in uns allen", sagt Martens und surft mit Dabelsteins Erzähltext weiter zu Reflexionen über Sucht: Warum heißt es immer, Frauen greifen zu Rauschgiften, weil sie melancholisch an Männern leiden? Warum dürfen sie nicht einfach (wie Männer auch) "drogensüchtig" sein, ganz autonom und ohne Herzschmerz? "Falten kommen vom Denken" wirft Martens mit einem Zwischentext von Regisseurin Lena Brasch ein. Und dieses faltenwerfende Laut-Denken, dieses Abtasten von Sichtweisen auf Britney und ihren Fall führt der Abend entspannt und launig vor. "Das Tragische ist, dass Britneys Unterleib bis heute Thema ist", sagt Martens mit Blick auf die mediale Übergriffigkeit, in der bereits die Teenagerin Britney mit Fragen nach ihrer Jungfräulichkeit traktiert wurde. Von größtenteils männlichen Journalisten, versteht sich. "Wenn ich sage 'Free Britney', dann meine ich auch: Free Britneys Hymen, free Britneys Sexleben und free Britneys Uterus", schleudert uns Martens entgegen und deutet damit sogleich auf alle Denksysteme und Regime von Keuschheit, mit denen weibliche Identität gesellschaftlich (in westlichen wie östlichen Kulturen) umstellt wird.
Martens wechselt Britney-Outfits, gibt kurz das Popsternchen im Silberkleid; die Britney-Perücke weicht dem legendär rasierten Look, im dritten Akt des gerade mal einstündigen Abends spielt sie mit ihrem Naturhaar. Und die Darstellung wird mit jedem Schritt direkter, durchlässiger, ungeschützter. Im Finale sorgt ein Text von Fikri Anıl Altıntaş für einen überraschenden Perspektivwechsel, die fiktive Stimme von Britneys Vater kommt zu Gehör, und Martens gibt ihr Raum und Gewicht: "Ich sehe deine Tränen im Fernseher und wünschte, es wären meine. /
Ich liebe dich! / Ich hatte doch nie Kontrolle, ich hatte Verantwortung!" Man kann sich leicht vorstellen, wie solche Worte ironisiert und verächtlich gemacht und zu den Sterbeakten des Patriarchats gelegt werden könnten. Aber Brasch und Martens lassen sie stehen, lassen sie gelten. Als Replik, als Andeutung von Dialog, wo so viel Verstummen zwischen den Geschlechtern herrscht. Bei aller feministischen Diskursfestigkeit und Klarsicht für toxische Muster von Männlichkeit wirkt ihr Abend nirgends brachial oder empört, sondern bestechend souverän und ausbalanciert.
Und wenn das alles etwas verkopft klingen mag, dann ist das natürlich nur eine Seite der Medaille. Tatsächlich ist "It’s Britney, Bitch!" schon auch zu einem guten Teil Pop-Oper. Als roter Faden ziehen sich Klassiker von Britney durch den Abend, aber wundervoll verfremdet, eingedunkelt. Gemeinsam mit der Musikerin Friederike Bernhardt hat Martens den Britney-Sound tiefer gelegt, entkernt und entschleunigt. Als sei die Schwester von Nick Cave übers Notenblatt gestiefelt. "Wir wollten Britney auf Moll drehen", sagt Martens beim Interview, und Brasch übernimmt: "In der Popmusik werden selbst Balladen in Dur geschrieben."
Im Theater funktioniert auch Moll, sehr gut sogar. Tatsächlich hört man mit dem Tonartwechsel die Lieder wie zum ersten Mal, die Songtexte wirken gleichsam unterm Brennglas schlagend aktuell: "If there's nothing missing in my life / Then why do these tears come at night?", heißt es in "Lucky" (dt. "Wenn mir im Leben nichts fehlt, warum kommen dann die Tränen in der Nacht", aus dem Song "Glücklich"). Ein bisschen Patriarchats-Kontext, ein bisschen anderer Akzent – und schon zeigen diese Lieder ihre unbehaglichen, tragischen Botschaften.
Britney hat von toxischen Männern gesungen, bevor es cool war. 'Toxic' war so viel früher als all eure toxische Männlichkeit.
"Britney hat von toxischen Männern gesungen, bevor es cool war. 'Toxic' war so viel früher als all eure toxische Männlichkeit", heißt es einmal in dem Stück. Und natürlich gibt Martens ihre Versionen von "Toxic" und "Everytime" und vielen Evergreens, und im Finale, als man dann schon vollends auf Verfremdung eingestellt ist, gibt’s einmal auch Britney original vom Band mit "Oops, I did it again" und einer sagenhaft präzisen Kopie in latexrotem Ganzkörperanzug mit der Tanzchoreographie des stilprägenden Musikvideos (choreographische Mitarbeit von Brittany Young).
Von den "Brecht-Ultras" setzte es etwas Schelte für die ganze Unternehmung, denn Britney Spears am Berliner Ensemble, das sei denn doch das Ende der Hochkultur, erzählt Lena Brasch beim Interviewtermin. Und man merkt dem Duo den Spaß an solchen Widerständen aus Teilen des Publikums an. Wäre ja auch doof, wenn die Über-Väter und ihre Siegelwahrer gerade bei einem solchen Abend stillhalten würden.
Britney-Fans wiederum seien erstaunt gewesen, weil es alles gar nicht die erwartete "Leichtigkeit" gehabt habe. Zu seicht oder gerade nicht seicht genug. Zwischen solchen Polen lässt es sich doch bestens swingen. Wie heißt es bei Britney in "Stronger" (dt. Stärker): "Hush, just stop / There's nothing you can do or say (baby) / I've had enough / I'm not your property…" Still, hör einfach auf. Es gibt nichts, was du sagen oder tun kannst (baby). Ich hab genug, ich bin nicht dein Eigentum…
Mehr zum Autor
Christian Rakow, geboren 1976 in Rostock, studierte Germanistik und Philosophie in Rostock, Sheffield und Berlin und promovierte in Literaturwissenschaft in Münster. Er ist Co-Leiter der Redaktion von nachtkritik.de und schreibt als Theaterkritiker u.a. für Theater heute. Er war Mitglied der Auswahljury des Festivals "Politik im Freien Theater" der Bundeszentrale für politische Bildung 2011, Mitglied der Preisjury beim Mülheimer Dramatikpreis 2014 und Mitglied der Jury des Berliner Theatertreffens 2017 bis 2019.