Sisyphus im Land der Avatare
Datum
Text: Christian Rakow
Im breiten Spektrum des Regietheaters, wie wir es seit einem guten halben Jahrhundert in Deutschland kennen (also seit Peter Stein), wird die Rolle des Regisseurs sehr unterschiedlich aufgefasst. Da gibt es defensivere Zugänge, die sich im Wesentlichen darauf beschränken, vorhandene Stoffe in ein moderneres Gewand zu kleiden. Sie arrangieren Textvorlagen um, schieben vielleicht auch einmal einen Fremdtext ein, aber die Gestalt der Aussage, die Dialoge und Monologe bleiben doch weitestgehend erkennbar erhalten. Am anderen Ende der Skala finden wir die Regiearbeiten, die sich selbst der Autorschaft annähern. Sie behandeln Stücke, mit denen sie umgehen, genuin als frei formbaren Stoff, als Material. Diese Regien lassen sich oftmals von einzelnen Bildern oder Atmosphären inspirieren, sie komponieren und schreiben das Vorhandene um und fügen es in eine neue Form von Drama. Im Grunde sind die Ergebnisse dann eigene Stücke, und ihre lockere Herkunft zeigen sie im Untertitel an: Ein Abend "frei nach".
Mit einem solchen Stück haben wir es bei "Woyzeck" vom Theater Magdeburg zu tun. Es weist sich als Theater "nach Georg Büchner" aus und ist also sehr eigenmächtig gebaut von Regisseur Jan Friedrich. Eine düstere "Woyzeck"-Fantasie hat Friedrich dem Spätwerk Büchners (geschrieben 1836/37, uraufgeführt 1913) abgewonnen. Wir erblicken eine Cyberpunk-Welt, mit kargen Bäumen, einem Autowrack Marke Trabant, einer vergessenen Bushaltestelle, an der zwei Dorf-Nazis herumlungern. Es ist eine abgewetzte Szenerie mit leisen Anklängen an die verlassenen Landstriche, die es zwischen Elbe und Oder reichlich gibt. In dieser Welt streift Woyzeck stumm umher. Und durchlebt ein fatal auswegloses Computerspiel.
"Woyzeck" ist natürlich – das weiß man aus dem Schulunterricht – Fragment geblieben und lässt also ohnehin maximalen Freiraum für eine Bühnenumsetzung. Die Reclam-Fassung, die durch unser aller Hände ging, gibt einen Vorschlag für eine sinnfällige Ordnung der Bauteile, die den Konflikt um den Frauenmörder Franz Woyzeck nachvollziehbar macht. Sie zeigt den Soldaten Woyzeck als Knecht der zeitgenössischen Instanzen: unter der Knute des Militärs, als Opfer von Menschenversuchen, die der Doktor mit einer schädlichen Erbsen-Diät an ihm unternimmt. Woyzeck, einfach gestrickt, lässt alles mit sich geschehen. Er braucht den kargen Lohn, denn er muss fürs uneheliche Kind und seine Partnerin Marie zahlen. Sein Körper mergelt aus, der Geist zerrüttet. Als Marie ihm untreu wird, bringt Woyzeck sie schließlich um. "Ein guter Mord, ein echter Mord, ein schöner Mord", konstatiert der Polizist, der die Leiche findet.
Jan Friedrich übersetzt das fatale Zwangssystem, in dem sich Woyzeck abrackert, in eine höchst eigenständige Struktur. Sein Stück verläuft nach dem Vorbild eines 3D-Videospiels in Egoperspektive. Wir blicken gleichsam durch die Augen Woyzecks, wenn Philipp Kronenberg in der Titelrolle durch die düstere Hinterhoflandschaft trippelt. Nur seine Hände sind zu sehen, während er filmend umherläuft und die Bilder direkt auf eine große Leinwand in der Bühnenmitte übertragen werden. Jede Bewegung ist live mit Sounds unterlegt: raschelnde Schritte, ein dumpfer Luftzug, wenn Woyzeck eine Flasche wie eine Hiebwaffe schwingt.
Tut mir leid – Deine Augen glänzen ja – Kind beruhigen – Weggehen.
Woyzeck sagt nichts, Woyzeck ist stumm. Die Figuren aber, denen er begegnet, erhalten eine Stimme, werden gewissermaßen live synchronisiert, wenn Schauspieler*innen am Bühnenrand ihren Text dräuend still ins Mikro sprechen. Diese Trennung zwischen Körper der Spieler und fremder Stimme erhöht die Künstlichkeit und die Ähnlichkeit mit der artifiziellen Ästhetik von Computerspielen. Wenn die anderen Figuren (im Game würde man korrekt von "Non Player Characters" sprechen) den Avatar Woyzeck adressieren, reagiert er nicht umgehend, sondern auf dem Bildschirm erscheinen schriftlich Antwortoptionen. Die Eingangsszene: Marie mit Kinderwagen, das Baby weint, Marie sagt vorwurfsvoll: "Hast dich lang net blicken lassen." Und auf dem Bildschirm sehen wir einen Cursor zwischen Woyzecks Antwortoptionen wählen: "Tut mir leid – Deine Augen glänzen ja – Kind beruhigen – Weggehen." Was immer für Woyzeck gewählt wird, es wird nurmehr gestisch umgesetzt, spiegelt sich in den Reaktionen des Gegenübers.
Den Grusel-Klassiker "Slender Man" oder auch "Cyberpunk 2077" nennt Jan Friedrich im Gespräch als Einflüsse für die Bildlichkeit seines "Woyzeck". Überhaupt denke er stets stark von der Visualität her: "Ich nähere mich Stoffen generell übers Bild. Ich kann eine Arbeit erst zusagen, selbst wenn mir der Text gefällt, wenn ich gute Bilder dafür im Kopf habe", sagt er in unserem Zoom-Call, den wir für dieses Stückporträt verabredet haben. Friedrich zeichnet in seinen Regiearbeiten regelmäßig auch für eine der Ausstattungspositionen verantwortlich, mal für die Kostüme, mal – wie hier in Magdeburg – für den Bühnenentwurf. Der gebürtige Eislebener (Jahrgang 1992) hat an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" Puppenspiel studiert und kam dann über eine Studiengangsarbeit zu Regisseurin Claudia Bauer und ans Stadttheater. Als Bauers Dramaturg und gelegentlich Regie-Sidekick entwickelte er verschiedene Romanadaptionen und war daneben zunächst auch als Autor aktiv. 2015 liefen seine "Szenen der Freiheit" bei den Autorentheatertagen am Deutschen Theater Berlin, 2016 wurde er mit "Deals" zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen.
Inzwischen konzentriert sich Friedrich auf die Regie und stellt seine Autorenambitionen in den Dienst der Inszenierungsarbeit. Am Jungen Schauspiel Mannheim debütierte er 2016 als Regisseur mit Goethes "Faust". Seither inszeniert er regelmäßig kanonische Texte von Brecht, Ibsen oder Molière an mittelgroßen Stadttheatern in Dortmund, Mainz oder Oberhausen. Auch im Kinder- und Jugendtheater ist er weiter anzutreffen. Mit Frank Wedekinds "Frühlings Erwachen" aus der Schauburg München war er 2019 zum großen Theatertreffen der Szene "Augenblick mal" eingeladen.
Ein Faible für das Spiel mit Masken und formale Zugriffe zieht sich durch seine Arbeiten. Jedoch: "Es kommt immer auf den Stoff an, ob es konzeptionell einen Mehrwert hat, ihn formell anzugehen", sagt Friedrich. Er betont die Aufgabe des Regisseurs, klassische Stoffe zu vergegenwärtigen und sie selbstbewusst für die heutige Bühne anzueignen. Aber eine wiedererkennbare "Regiehandschrift" auszubilden, sei inzwischen nicht mehr so wichtig wie vielleicht noch am Anfang der Karriere. "Ich suche im Moment eher nach Abwechslung", sagt Friedrich.
Ich suche im Moment eher nach Abwechslung
Für die künstliche Anmutung der Figuren im Magdeburger "Woyzeck" hat er mit Kostümbildnerin Vanessa Rust zusammengearbeitet (die regelmäßig auch für Claudia Bauer Kostüme entwirft): Knieschoner, Tennissocken, Bomberjacken, Kassengestellbrille, abgewetzte enge Shirts. Die Stirn hoch, das Haar seltsam toupiert. Woyzeck trifft auf einen Nazi mit blauem Marsmännchen-Glatzkopf und Hipsterbart (eine Figur gemixt aus Hauptmann und Tabourmajor bei Büchner). Diesen flankiert eine Aggro-Göre mit strengem schwarzem Pony und langen glatten Haaren, die jeden seiner sinister hingehauchten Sätze mit kehligem Lachen abfeiert. Der Doktor könnte der Dealer-Serie "Breaking Bad" entlaufen sein; Woyzecks Kumpel Andres campiert in einem seltsamen Zelt, in dem es drinnen wie in einem Cockpit ausschaut. Marie mit elektrogeschocktem blondem Schopf schiebt teilnahmslos ihren Kinderwagen und streckt Woyzeck eine Kinderpuppe als gemeinsames Baby entgegen. Eben: Cyberpunk pur.
Um die Ausweglosigkeit des Woyzeck'schen Martyriums zuzuspitzen, nutzt Friedrich das gängige Handlungsschema von Computerspielen: die Mission beziehungsweise Quest. "Besorge Geld für deine Familie | 0/6" ist als Aufgabe im Videoschirm zu lesen. Und also zieht Woyzeck los, findet eine Münze im alten Trabant-Autowrack, kämpft mit einer Ratte (und verliert dadurch etwas Energie auf seinem roten Lebensbalken). Und richtig erfolgreich ist er beim Doktor, wenn er sich das toxische Erbsengebräu einflößen lässt. Da steigt die Zählanzeige bis auf 6/6. Aber Erfolg bedeutete es doch nicht. Denn kaum scheint die Quest erfüllt, kehrt Woyzeck zu Marie zurück, bricht das Spiel ab. "Game over". Und wir landen wieder beim Startbildschirm "Woyzeck: Neues Spiel – Spiel laden – Einstellungen – Beenden". Und wenn der Held erneut in die Welt abtaucht – "Neues Spiel" – findet er sich wieder bei der Eingangsmission "Geld besorgen". Ein moderner Sisyphus im Land der Avatare.
"Woyzeck" macht im zeitgenössischen Theater aktuell Karriere in radikalen feministischen Lesarten, die den Titelhelden aus dem Zentrum rücken. Schließlich führt das Stück final seinen "Femizid" an Marie vor, den es in seinem Handlungsaufbau verständlich zu machen sucht, die radikalsten Kritiker würden sagen: teils auch entschuldigt. In Zeiten, da Statistiken immer klarere Einblicke in die Realität häuslicher Gewalt geben, wird Woyzeck entsprechend gegen den Strich gelesen.
Diesen Weg der Neubewertung geht Jan Friedrichs Bearbeitung nicht. Er zeigt Woyzeck als Experimentieranordnung: ein Gamer im stahlharten Gehäuse des Spiel-Algorithmus. Hier läuft es nicht auf die Psychologisierung des Helden und auf seinen Mord an Marie hinaus. Das Spiel endet mit einem Amoklauf: Der in der Endlosschleife gefangene Zocker dreht mit seinem Avatar Woyzeck durch. Auf Andres sticht er ein, auf Margret. "Jeder Mensch ist ein Abgrund". Der Doktor stirbt, das Nazi-Pärchen. Bei Marie reißt das Bild ab. Eine Parabel auf systemische Zwänge. Die Ausweglosigkeit gebiert Monster. Und es ist keine Steckdose weit und breit, um sie auszustöpseln.
Mehr zum Autor
Christian Rakow, geboren 1976 in Rostock, studierte Germanistik und Philosophie in Rostock, Sheffield und Berlin und promovierte in Literaturwissenschaft in Münster. Er ist Co-Leiter der Redaktion von nachtkritik.de und schreibt als Theaterkritiker u.a. für Theater heute. Er war Mitglied der Auswahljury des Festivals "Politik im Freien Theater" der Bundeszentrale für politische Bildung 2011, Mitglied der Preisjury beim Mülheimer Dramatikpreis 2014 und Mitglied der Jury des Berliner Theatertreffens 2017 bis 2019.