The Sound of Sahne
Datum
Text: Katharina Mühl
"Wer ist der Mörder?", fragt eine Stimme vom Band, die scheinbar mit antiker Technik aufgezeichnet wurde. Die auditive Qualität lässt jedenfalls zu wünschen übrig. Das Licht geht aus, und Ratlosigkeit kehrt ein, bis… Die erste Person beginnt zu klatschen. War das schon das Ende? Aber wann wurde denn überhaupt jemand ermordet? Wer war das Opfer? Und wie wurde die Tat vollzogen?
Lassen Sie mich das rauschende Band einmal zurückspulen und von vorne beginnen: "À la carte" ist eine Performance des Kollektivs Current Resonance aus Kopenhagen. Was auf der Karte steht, ist gar nicht so einfach zu benennen; die Handlung ist wohl in 5 Akte unterteilt – oder 5 Gänge, wenn man im abendlichen Fachjargon bleiben möchte.
Wie in einem Film erscheint vor Beginn des Stücks eine Trigger-Warnung: "Achtung, das Menü des Abends könnte Stroboskop-Effekte und fäkale Inhalte enthalten!" Nach und nach betreten die vier Darsteller die Bühne, sie wirken wie Business-Männer in der Mittagspause, die sich routiniert und etwas gehetzt an die lange schwarze Tafel setzen. Dort werfen sie als Erstes einen Blick in die Karte, in der einer aus der Truppe ein Manifest des Restaurants vorfindet: "Die wichtigste Person im Restaurant ist der Chef", liest er vor, ohne, dass die anderen von ihm Notiz nehmen. Geld oder Lob von den Gästen seien nebensächlich. Kann man das auch auf den Theaterabend übertragen? Hauptsache, die Regie ist zufrieden? Was die Zuschauer*innen sagen, ist nebensächlich?
Als zweiten Gang gibt es Musik für tote Tiere. Auf einer großen Videowand hinter der Tafel wird ein Einspieler gezeigt, in dem zwei der vier Darsteller ein totes Schwein ehren. Oder ärgern? Vermutlich übrigens jenes "micro pig", das eben noch bestellt und im Pantomime-Style laut schmatzend verzehrt wurde. Essensmanieren konnten die Geschäftsmänner nämlich eher weniger vorweisen, aber vielleicht blieb für ästhetisch schönes Verspeisen auch einfach keine Zeit, weil das nächste Meeting bevorstand? Das heilige Schwein – mit einem rosa Rosenkranz auf dem Kopf – wird nun mit Obst und Gemüse beknistert. Die beiden Männer schmatzen Salat in sein Ohr und schlürfen mit Schokopudding, der für das Schwein tödlich wäre. Ist es daran gestorben? Machen sich die beiden Mörder gerade über ihre Tat lustig? Oder trauern sie mit dieser Performance um das Tier? Wollen sie auf Massenschlachterei aufmerksam machen, ihre Zuschauer*innen zum Vegetarismus bekehren?
Zurück auf der Bühne wird dann ein Kuchen abgeschlachtet. Während ihn der Mörder stoisch zerteilt, weint und wimmert sein Mitspieler gegenüber. Wieder ein Hinweis darauf, mit welcher Selbstverständlichkeit wir täglich qualvoll Tiere hinrichten?
Weiter geht’s. Und wem bisher noch nicht der Appetit vergangen ist, der dürfte nun von der natürlichen Un-Ästhetik des Menschlichen pikiert sein. Soll heißen: Am langen Tisch haben drei Männer Platz genommen, vor ihnen Schoko-Sahne-Torten. Hinter ihnen wird wieder ein Einspieler gezeigt, der Verdauungsweg der Torten wird rückwärts abgespielt. Es beginnt mit einem Mann, der sich – nun ja – erleichtert, zeigt diverse Fahrten durch Gedärme und die Schönheit der menschlichen Körper, bis wir sehen, wie die Schokotorte aus dem Mund zurück in den Teller gelöffelt wird. Die Darstellenden auf der Bühne beschmieren sich nun mit Essen und vollführen eine rhythmische Choreografie. Welcher Logik diese folgt, bleibt unklar. Sie drehen synchron ihre Teller, kratzen mit dem Löffel über den Tisch und schlagen mit der Faust darauf ein, sodass eine Melodie entsteht.
Das scheint der rote Faden des Abends zu sein: Rhythmen, die beim Essen entstehen. Das bestellende Gemurmel der Business-Männer, das Knistern vor den Schweineohren, die wimmernden Laute des Kuchen-Freundes und der Schoko-Sahne-Song könnten zusammen ein Album bilden, das den Titel des Stücks trägt: "À la carte".
Zum Dessert des Abends sieht man eine feine Gesellschaft in androgynen Abendkleidern bei einem Gelage. Sie speisen feierlich, bis sie plötzlich – überrascht von gierigen Paparazzi – im Blitzlichtgewitter aufeinander einprügeln. Dann setzt besagte Stimme vom Band ein und hinterlässt Verwirrung und geteilte Meinungen: Humor oder Klamauk, das ist hier die Frage. So oder so, zum Lieblingsgericht wird der Abend nicht werden.
Mehr zur Autorin
Katharina Mühl liebt das Theater, wenn man vollständig in die Geschichten eintaucht und für einen Augenblick vergisst, dass man doch nur auf roten Samtsesseln einem Spiel zuschaut. Sie hat nach jahrelanger Arbeit an den Theaterbühnen selbst nun beschlossen, die Seiten zu wechseln und lieber als Kulturjournalistin Geschichten aus der Kunst zu erzählen. Diagnose: Süchtig nach guten Geschichten, geht deswegen nie ohne Buch oder Podcast außer Haus.