Unsere Körper sind das Prisma, durch das wir unsere Existenz erfahren
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Von Sarah Theurer und Malene Hagen
"Radical Hope" ist nicht nur radikal im Sinne von extrem sondern auch im ursprünglichen Wortsinn von radix, Wurzel: eine wachsende Hoffnung. Die Performance von Stef Van Looveren schafft einen fruchtbaren Boden für diese Hoffnung, indem sie eine sex-positive Gemeinschaft diverser Körper inszeniert.
"Innerhalb der Gesellschaft sind wir alle irgendwie in Drag" sagt Van Looveren. "Wir leben in einer Zeit, in der das Körperliche sehr stark im Mittelpunkt steht", erklären die multidisziplinäre Künstler*in ihr Interesse an Selbststilisierung. "Ein Körper muss uns sagen, wer man ist oder wie man sich identifiziert. Aber ich denke, ein Körper ist nur ein Werkzeug." Van Looveren verweist damit auf Künstler *innen wie Orlan, die in ihrer Videoperformance "Die Reinkarnation der Heiligen Orlan" (1990-1993) ihr Gesicht durch verschiedene chirurgische Operationen den kunsthistorischen Schönheitsidealen von Venus, Diana, Europa, Psyche und Mona Lisa anpasste. Ihre Metamorphose, als mediales Ereignis für die Kamera inszeniert, machte den (weiblichen) Körper auf schmerzhafte Weise zum Instrument.
In "Glitch Feminism" (2020) schreibt Legacy Russel: "Wir verwenden 'Körper', um einer Idee ohne Form, eine abstrakte Zusammenstellung, eine materielle Form zu geben. Der Begriff 'Körper' ist in sozialen, politischen und kulturellen Diskursen verankert, die sich verändern, je nachdem, wo der Körper situiert ist und wie er interpretiert wird. Wenn wir einen Körper vergeschlechtlichen, machen wir Annahmen über seine Funktion, seine sozio-politische Bedingung, seine Unveränderlichkeit." Genau hier setzt Van Looverens Arbeit an.
Stef Van Looveren ist ein*e multidisziplinäre*r Künstler*in aus Antwerpen. Sie studierten bildende Kunst, unter anderem an der Central Saint Martins, London und Sint-Lucas, Antwerpen. Van Looveren setzt sich mit der Performativität zwischenmenschlicher Interaktion und der sozialen Konstruktion von Geschlecht auseinander. Ihre Arbeiten wurden unter anderem in Amsterdam, Brüssel und New York gezeigt und mit Förderpreisen für junge Kunst ausgezeichnet.
"Radical Hope – Eye to Eye" ist eine Symphonie für sechs Körper und diverse Objekte. Zusammen werden sie zu skulpturalen Assamblagen. Es ist ihre erste Performance überhaupt und sie basiert auf der gleichnamigen Videoarbeit "Radical Hope" (2018) in der van Looveren sich zusammen mit 30 Performer*innen in verschiedene emotionale Zustände wie Begierde, Glückseligkeit, Trauer oder Wut hineinversetzt. Innere Emotionen werden hier durch körperliche Mutationen ausgedrückt. In einem klinisch weißen Raum mit einer 360°-Kamera aufgenommen, scheinen die Körper in einer Art virtuellen Realität zu existieren. Van Looveren lässt die Kamera in Zeitlupe um sich selbst rotieren, wobei das Sichtfeld der Kamera, das deutlich größer ist als das des menschlichen Auges, die abgebildeten Körper immer wieder auf unnatürlich Art und Weise verzerrt. Ihre Bewegungen sind verfremdet und erscheinen unmenschlich. Von dem maschinellen Auge erfasst und scheinbar exakt wiedergegeben provozieren die Bilder Assoziationen mit einer wissenschaftlichen Taxonomie. Die Körper, die alle auf ihre eigene Art und Weise geschlechtliche Binarität unterwandern scheinen zu schweben: Van Looveren vergleicht sie mit Plasma, ein Gemisch aus freien Elektronen, positiven Ionen und neutralen Teilchen eines Gases, die sich durch ständige Wechselwirkung untereinander in verschiedenen Energie- bzw. Anregungszuständen bewegen.
Unsere Körper setzen uns auf dramatische Weise einer Reihe von Privilegien und Vorurteilen aus.
Van Looferen zeigt das Video auf gebogenen Wänden, passend zum Gender-bending, nichts soll "straight" bleiben. Während die Körper im Video mit sicherem Abstand und durch die Kamera in Erscheinung treten, begegnen wir ihnen in der Performance direkt – Eye to Eye, von Angesicht zu Angesicht.
Eingeläutet wird die Performance von dem hohlen Klang und der Kerbe, die ein stumpfer Metallkörper auf poliertem Kunstharz hinterlässt. Immer wieder schlagen Van Looveren auf eine Überlebensgroße Maske ihres Abbildes ein. Ihre Haut schimmert zart vom Schweiß der gewaltsamen Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Form. Metallschellen, die die Füße zum tänzeln zwingen deformieren dabei Van Looferens Körper genauso schmerzhaft-lustvoll wie sie ihre Maske demolieren. "Wir stecken alle in unseren Körpern fest, das heißt, wir stecken in einem Raster widersprüchlicher Vorstellungen darüber, was diese Körper bedeuten, wozu sie fähig sind und was sie tun dürfen oder nicht", schreibt Olivia Laing in "Everybody" (2021). Unsere Körper setzen uns auf dramatische Weise einer Reihe von Privilegien und Vorurteilen aus. Die Rhetorik von White Supremacy, Frauenfeindlichkeit und LGBTIQAP+ Diskriminierung zwingt unseren Körpern immer wieder die Vorstellung auf, dass einige Arten von Körpern richtiger, wichtiger, wertvoller sein sollten als andere.
Folgen wir Van Looferen zu einer Art Altar aus einem Bett aus Erde, von der aus später eine dreifaltige Venus aus dem Schlammbad entsteigen wird. Rund um den Whirlpool, der für Oppulenz und vielleicht auch für eine erotische Spielwiese steht, wachsen Blumen mit lila Blüten. Die "Dicentrs spectabilis" werden im Volksmund auch Tränendes oder Flammendes Herz genannt. Atemberaubend schöne Wesen mit langen Haaren und phantasievollen Gewändern beleben diese Landschaft. Wie aus Hyeronimos Boschs "Garten der Lüste" entsprungen spielen sie mit Weihrauch und ihren Körpern. Van Looferen und ihre Performer*innen (Mustaf Ahmeti und Oriana Mangala Ikomo, Julia Tröscher, Rachel Alvarez, Nicolas Maxim Endlicher, Inge Grognard und Sofie Velghe) arbeiten mit Methoden des Rollenspiels und leihen für die Dauer der Performance ihre Körper an ihre fiktiven Identitäten aus.
In direkter Nachbarschaft liegt ein lebloser, geschlechtloser und opulent geschmückter Körper aus Wachs, aufgebahrt auf einem OP-Tisch. Wieder ist es ein Abbild Van Looverens, diesmal in Lebensgröße. Unter grellem Licht liegt die Skulptur umringt von lebensechten Abgüssen menschlicher Genitalien in allen Farben des Regenbogens. Schon früh haben Künstler*innnen wie Alina Szapocznikow (1926-73) mit gemischten Gefühlen zwischen Qual und Vergnügen, Sex und Tod, Humor und Selbsterniedrigung den menschlichen Körper seziert. Auch zu Van Looferens "Bodybags", die auf den ersten Blick wie ein Scherz des Modedesigners Demna Gvasalia aussehen, könnte man in Andenken an die Bildhauerin Anu Põder (1947-2013) komplexe Herkünfte herstellen. Am direktesten verweist die Wachsskulptur "Imagening Monuments" (2019) auf diese mögliche Geschichte: ein blutroter Wachsabguss von Van Looverens Unterschenkeln und Füßen, die mit einem Kerzendocht versehen langsam dahinschmelzen. Die Skulptur ist eine Transformation, die stetig Form, Farbe und Konsistenz ändert.
Van Looverens Körper scheinen ganz ins Spiel ihrer Verwandlungen vertieft, sie zeigen nicht die stille Wut und Verzweiflung früher feministischer Körpererfahrung.
Korsagen, fleischfarben und glitzernd, erinnern an die perlenbestickten Silikonskulpturen von Doreen Garner. Die Künstlerin verweist damit auf die Fehlannahme, Krankheit und Behinderung seien ein durch den Körper des Einzelnen verursachtes Versagen. Durch das Korsett wird deutlich, dass sie ein Zustand sind, der oft auch systemisch und ungerecht produziert wird - sei es durch ein normatives Gesundheitssystem, durch Umweltverschmutzung, Rassismus oder Kapitalismus. Eine burleske, leidenschaftliche Geburt deren Schluchzer sich in unheimlicher Weise mit dem tanzbaren Soundtrack verbinden der auch ASMR und Mikro-Geräusche nutzt, um im Publikum unterbewusst die sogenannten "Tingels", tiefe Entspannung oder Erregung, hervorzurufen.
Im Verlaufe der Performance legt sich Staub, Schlamm, Schweiß, Spucke und Schminke wie eine zweite Haut auf die tanzenden Körper, die immer ekstatischer werden. Mit prothetischen Sexspielzeugen verbinden sie sich in einem hemmungslosen Liebesakt zu einer Hydra, deren Antlitz in einem Moment an christliche Ikonen und im nächsten Moment an die queere Pornografie Shu Lea Cheangs erinnert. Wie auch Cheang ist sich Van Looveren bewusst, dass Intimität und Sex sehr anfällig sind für die Vereinnahmung und Kontrolle durch Kommerz. Cheang nutzte den unklaren Status ihrer "öko-cyberpornografischen" Kunstpraxis, um nach dem potentiellen Nutzwert von Körpern (und Kunst) im digitalen Zeitalter zu fragen. Van Looveren ist in dem Jahr geboren, in dem Orlan ihren Körper zum Kunstwerk machte und ihre Arbeit ist ein Kind dieses digitalen Zeitalters. Unsere Körper sind das Prisma, durch das wir unsere Existenz erfahren. Wir sollten sie ernst nehmen, aber nicht zu ernst.
Mehr zu den Autorinnen
Sarah Johanna Theurer ist Kuratorin mit Schwerpunkt auf zeitbasierten Kunstpraktiken und techno-sozialen Verflechtungen. Sie arbeitet am Haus der Kunst München wo sie neben Retrospektiven auch neue Produktionen, Live-Events und Symposien realisiert.
Malene Hagen studiert Kunstgeschichte und Philosophie an der Ludwig-Maximilans-Universität München. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf körperlichen Wahrnehmungsformen in post-digitaler Kunst und (Neuro-)Ästhetik. Sie arbeitet als kuratorische Projektassistenz im Haus der Kunst München.