Wer ist Kim? Und wenn ja: wie viele?
Datum
Text: Svenja Plannerer
Just in dem Moment, in dem ich mich hinsetze, um diese Kritik zu schreiben, vibriert mein Handy. Eine Nachricht von meiner Mutter. Als hätte sie gewusst, dass ich gerade aus der Vorstellung von "Blutbuch" komme. Sie schreibt: "Ich glaube, du hast gerade ein großes Abenteuer. Ich bin sehr stolz auf dich." Ich breche in Tränen aus. Denke an mich, meine Mutter und meine Großmutter. Trauere um, für, mit all denjenigen, die heute versuchen, das Gift alter Muster hinter sich zu lassen. Fühle den Schmerz in meinem Zwerchfell, in meinen Ellbogen und Handgelenken, wo er sich in mir verkörpert hat.
Auch Kims Körper trägt Schmerz in sich, den Schmerz von Generationen von Menschen, die nicht sein durften, wie und wer sie eigentlich waren, immer gepresst in Zwänge. Du sollst, du kannst, du kannst nicht, du musst. Angefangen bei der Großmutter, deren übermächtige Gegenwart ihren Schatten über Kims ganze Existenz wirft. Sie geistert in Schwarz-Weiß über die Fadenvorhänge auf der Bühne So hat sie sich in Kims Kindheitserinnerungen eingebrannt: monströs, überdimensioniert.
Wie viele andere hat sie in Kim ihre Zwänge abgelegt, als wäre der zarte Kinderkörper ein leeres Möbelstück, das mit nutzlosem Tand vollgestellt wird; Tand, der anderen gehört und den Kim tragen muss. In rot-weiß geringeltem Pulli, mit Cappi und knallroten aufgemalten Pausbäcken erlebt das Kind Zerrissenheit. Ihm wird aufgetragen, sich zu entscheiden: Junge oder Mädchen?
Selbst Zaubertränke, gebraut im zweidimensionalen Pappkessel, helfen nichts: Kim will weder das eine noch das andere sein. Es ist dem Kind nicht erlaubt. Mehr noch: Es kann dem Kind gar nicht erlaubt sein, weiß doch niemand, wie das gehen soll.
Hilfesuchend wendet sich Kim an die Blutbuche im Garten des Hauses seiner Großmutter. Vergräbt dort seine Stimme, seine unsägliche Stimme, die noch nicht zu sagen weiß, was sie gerne sagen will. Die Blutbuche, ein vor Rot triefendes Wesen mit langen Fingern als Ästen und verschlungenen Wurzeln an den Füßen, gräbt sich im Gegenzug in das Kind.
Kim kennt nur einen Ausweg, den eigenen Körper greifbar zu machen: Sprache.
Kim bleibt natürlich nicht Kind. Kim wird erwachsen, probiert sich als schwuler Mann aus. Fickt sich durch fast die ganze homosexuelle Bevölkerung in Reichweite, dokumentiert die Eroberungen auf der eigenen Haut. Kalkuliert die eigene Fuckability mit abstrusen Formeln, baut sich Muskeln auf.
Nein! Das passt nicht, das passt nicht, das passt nicht! Das ist nicht Kim. Kim ist die Mutter, die Kim mit einem Heilzauber auftauen wollte aus ihrer tiefblauen Eisköniginnen-Maske. Kim ist der abwesende Vater, der Kim eigentlich nur seine Gesichtszüge dagelassen hat; ist die Großmutter mit ihren groben Händen. Ist Kims Körper überhaupt Kims? Gehört er nicht viel eher all denen, die vorher kamen? Geht er verloren, wenn einer der anderen Körper stirbt? Wird er zum Störbild, zum Hintergrundrauschen, wie es über Großmutters Haut flimmert, als die Demenz von ihr Besitz ergreift?
Kim kennt nur einen Ausweg, den eigenen Körper greifbar zu machen: Sprache. Kim konnte so lange nicht über sich selbst sprechen, doch endlich ist die Zeit für eine neue Magie gekommen. Wenn Kim über den eigenen Körper spricht, diesen nicht-binären, nonkonformen Körper, dann erschafft diese Sprache gleichzeitig endlich Kims Körper. "Ich glaube, dass alles, was wir anschauen, auch zurückschaut." – Kim wird sichtbar wie Kim sein will, in einer Welt, die Kim innig liebt, trotz all der negativen Scheiße, die darin existiert.
Nicht umsonst teilt [Jan Friedrich] Kims Identität auf sieben großartige Darsteller*innen auf; eine Person reicht nicht.
Jan Friedrichs Magdeburger Inszenierung von Kim de l’Horizons Roman "Blutbuch" ist zu groß, um sie in Worten festzuhalten. Nicht umsonst teilt er Kims Identität auf sieben großartige Darsteller*innen auf; eine Person reicht nicht. Ich könnte viel über den Einsatz von Video, Licht, Sprache und Rhythmus schreiben. Über Queerness und Identität und transgenerationales Trauma. Stattdessen sage ich lieber, dass es gut war, dass ich mir noch einen Keks aus der Hotellobby mitgenommen habe, als Nervennahrung für nach dem Weinen.
Mehr zur Autorin
Svenja Plannerer geboren 1996, ist Psychologin, Autorin, Kulturjournalistin und sehr neugierig. Ihre letzten Abenteuer führten sie zur Buchbinderei und zur koreanischen Sprache, die sie gerade versucht zu lernen.