Auch im Digitalen: Kitsch ist erlaubt!
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Text: C. Bernd Sucher
Wahrscheinlich schreiben sich Liebende auch heute noch Briefe. Aber wahrscheinlich nur in den seltensten Fällen benutzen sie dafür den Füller oder den Kugelschreiber und stecken den Brief dann in ein Kuvert und dieses schließlich in einen Briefkasten. Viel zu kompliziert, zu zeitaufwändig, zu uncool. Nein, in Zeiten, in denen Menschen sich von ihren Liebsten mit einer kurzen WhatsApp-Nachricht trennen, wird auch der Liebe jede elektronische Tür geöffnet. Jede erdenklich verfügbare.
Cosmea Spellekens Video-Werther spielt mit Goethes Briefroman, klug, geschickt und sehr nah am literarischen Original. Ob diese Version ohne die Corona-Pandemie zustande gekommen wäre, diese Frage stellt sich eigentlich nicht. Die Produktion "werther.live – Digitales Theater" braucht keine Entschuldigung. Sie ist formal und inhaltlich ein eigenständiges Kunstwerk. Und doch möchte man es wissen.
Befragt, warum sie sich diesen Text ausgesucht hat, antwortet Cosmea Spelleken, dass sich dieses Werk aus mehreren Gründen angeboten habe: "Zum einen, und das ist vielleicht der beste Grund, warum man eine Geschichte erzählen sollte: Ich liebe den Stoff. Liebte ihn schon immer. Goethe, Werther, dieses Übersprudeln der Emotionen, diese emotionale Dünnhäutigkeit der Figur, die Einsamkeit, die ihr innewohnt. Die tiefe Traurigkeit gepaart mit der überbordenden Liebe und einer großen Lebenslust: All das sind Themen, die mich sehr ansprechen. Und es sind Punkte, welche meiner Generation sehr entsprechen. Sicher, wir chatten und schreiben keine (oder kaum) Briefe. Wir hören Songs und weniger Kammermusik. Aber diese emotionale Überspanntheit und ganz besonders die Sehnsucht und die Einsamkeit: All das sind sehr typische Themen unserer Zeit und unserer Generation.
Zu guter Letzt gab es noch einen weiteren Grund, weswegen sich der 'Werther' nahezu aufgedrängt hat: Es ist ein Briefroman. Schon die Textvorlage spielt mehr oder weniger mit ihrem eigenen Medium. Und sie lebt durch die Schriftlichkeit. Wir sind automatisch in einer Innenperspektive! Was in Briefen und Episteln funktioniert, das kann doch auch mit Mails und Chats gut gehen, oder? Ich denke, ja. Denn auch wenn sich die Sprache ändert – und ich möchte nicht so vermessen sein zu behaupten, dass die Goethische Sprache auch nur im Ansatz mit Chat-Konversationen gleichzusetzen ist –, funktionieren doch die Inhalte und die Notwenigkeit, mit welcher sie vorgebracht werden, genauso gut im Digitalen wie im Analogen. Die Emotion steht im Vordergrund! Deswegen trägt es."
Zum einen, und das ist vielleicht der beste Grund, warum man eine Geschichte erzählen sollte: Ich liebe den Stoff.
Es stimmt: Dieser digitale "Werther" ist ein Spiel, das den Zuschauer*innen bewusst macht, dass die Sprache immer noch taugt, Gefühle zu beschreiben. Aber den Menschen des 21. Jahrhunderts genügt die Sprache nicht mehr, sie brauchen zusätzlich – doch nicht als Ersatz für Worte –, Bilder und Emojis, Posts in jeder Form, musikalisch, deskriptiv, verbal. Sie sind spielerisch unterwegs auf Facebook und Instagram. Sie chatten, sie schreiben Nachrichten und senden Sprachnachrichten. Sie sind – und das unterscheidet sie von dem Goethischen Briefschreiber und dem im Roman eingeführten "Werther"-Herausgeber – Multitasker. Sie können dank ihrer Rechner und deren Betriebssystemen mehrere Aufgaben gleichzeitig ausführen.
Während Werther und sein Freund Willi in der ersten Szene miteinander skypen, trudeln auf ihren Rechnern Nachrichten ein, Anfragen – und wir werden Zeugen, dass die beiden Männer im Anbaggern von Frauen durchaus gewitzt sind. Willi ist ausgelassen, ein Glas Aperol Spritz in der Hand und neben sich eine Schale mit Nüssen, Werther gleichfalls ein Weinglas in der Hand, wirkt aber weniger fröhlich, eher bedenklich: Immer wieder sehen wir, dass auf Werthers Bildschirm Nachrichten aufploppen, schnell aufeinander: Freund*innen melden sich auf Facebook, auf Instagram, auf WhatsApp. Während die beiden miteinander reden, chatten sie mit anderen und verfassen kurze Nachrichten. Fragen, Antworten.
Was sie zuweilen stört, ist das Klingeln der Mobiltelefone. Anruf annehmen oder nicht?
Alle Teilnehmer*innen der Chats haben Fantasienamen. Wer Ther, geschrieben in zwei Silben, als wäre Wer der Vor-, Ther der Nachname; Willi nennt sich Willi Schätzchen. Sie kommunizieren per Skype, wenn sie einander sehen wollen, und nutzen die anderen Plattformen, um sich verbal oder nonverbal zu äußern. Und sie posten Bilder oder Funde aus dem YouTube-Channel.
Es scheint so, als seien sie nie bei der Sache. Als seien sie immer abgelenkt, und doch wird deutlich, dass es bei jedem Austausch von Informationen für jeden Teilnehmer und jede Teilnehmerin Prioritäten gibt. Werden die Zusammenkünfte beendet, dann gehen die Personen "raus aus dem Meeting". Aber während der Meetings ist auf allen Plattformen etwas los. Gleichzeitig. Nur E-Mails werden nicht versandt, und sie gehen nicht ein. E-Mails sind, das soll das Fehlen wohl andeuten, voll vergangenes Jahrhundert.
Die Schreibmaschine mag nicht die eleganteste Lösung sein, aber inzwischen mag ich diese 'Kinderkrankheit' des Formats ganz gern
Cosmea Spelleken erzählt Goethes Briefroman nicht modernisiert. Sie schafft ihm andere Räume, doch keineswegs eine andere Botschaft. Sie erlaubt Jonny Hoff, dem Darsteller des Werther, sogar, die wichtigsten Goethe-Passagen auf einer uralten Schreibmaschine zu tippen, so dass wir hören, wie die Tasten runter- und wieder raufschnellen. Und dann können wir den Text, in eine Kamera gehalten, lesen. Was mir besonders gefällt, nennt Cosmea Spelleken "eine Notlösung". Zwischen den einzelnen Szenen habe der Darsteller des Werther Zeit gebraucht, seinen Bildschirm umzubauen für die nächste Szene. "Die Video-Einspielungen der Schreibmaschine sind quasi die 'digitalen Vorhänge' oder Blacks. Das Motiv der Schreibmaschine habe ich gewählt, weil eine Schreibmaschine für mich zwischen dem Handschriftlichen und dem Digitalen steht. Genau wie auch der Camcorder, mit dem gefilmt wurde. Mein Stück ist ja auch irgendwo an vielen Schnittstellen – digital, aber dennoch live, Theater, Film, Medienkunst, analoges Schreiben und digitale Mitteilung, zum Beispiel die Sprachnachrichten. – Die Schreibmaschine mag nicht die eleganteste Lösung sein, aber inzwischen mag ich diese 'Kinderkrankheit' des Formats ganz gern."
Die wichtigsten Topoi Goethes werden für diese Adaption gerettet. Zum Beispiel diskutiert Werther mit seiner Lotte, von der Freund Willi behauptet, sie sei viel zu schön für Werther, das Thema "Freitod", nachdem er sie informiert hatte, dass er sich in der letzten Zeit sehr "mit der Freiheit beschäftigt" habe. Und erklärt den Freitod für "die wichtigste Form der Freiheit". Lotte kann, nach dem Tod ihrer Mutter, nur widersprechen.
Besonders schön ist das Schweigen der Verliebten. Er lächelt blöd verknallt in die Kamera seines Laptops. Sie – und Klara Wördemann kokettiert nicht mit ihrem Aussehen – schaut engelsgleich. Liebe macht nur ihn dumm. Er tut alles, ihr zu gefallen, kommentiert den Song von King Crimson, den sie ihm während des Gesprächs schickte, einen YouTube-Fund: "Ja, ich verstehe total, warum du den Song magst." Und hat keine Erklärung parat.
Wie bei Goethe zeigt die Regisseurin zwei Seelenverwandte. Auch bei ihr ist Werther Jurist – mit einem Unterschied: Im Original ist der Titel-Antiheld ein junger Rechtspraktikant, bei Cosmea Spelleken ist er ein Jurastudent, der das Studium gerade ruhen lässt. Wie bei Goethe bleibt die Beziehung platonisch. Bei Goethe war es für beide eine Anstrengung, keusch zu bleiben; im digitalen Theater verbietet Lotte Werther, sie zu besuchen. Immer wieder hört sich Werther ihre und seine Sprachnachrichten an, um rekonstruieren, wann alles zum ersten Mal schiefging.
Lottes Albert ist der nämliche – im Roman und im Film. Goethe nennt ihn "einen braven Menschen", Klara Wördemanns Lotte ist fasziniert davon, dass ihr Albert, den sie schon Dezennien kennt, das Leben und die Menschen so sehr liebe. Sie mag letztlich Alberts Einfachheit. Während sie an Werther dessen Intellektualität schätzt, im Roman und in dieser Adaption. Manches, so steht bei Goethe, verstehe ihr Albert nicht, zum Beispiel die Faszination an Gewittern. Auch dieses Motiv gibt es in dieser Digitalfassung. Albert ist in keinem Chat zugegen, Werther findet ihn – Fotos von ihm, allein oder mit seiner Lotte – im Netz. Er ist also auch in diesem digitalen Theater existent.
Und an die Zeit hält sich Cosmea Spelleken auch. Beginn der Geschichte: 4. Mai; Ende 24. Dezember. Ist es bei Goethe Ossian, der gelesen wird, ist es nun Homers "Odyssee", über die Willi urteilt; man brauche Zeit, um reinzukommen. Mit Ossian hätte die Regisseurin die meisten Zuschauerinnen und Zuschauer wahrscheinlich überfordert.
Aus den Briefen sind nun moderne Kommunikationsmittel geworden. Der Roman gewinnt eine Heutigkeit, die verblüfft. Besonders auffallend: dass dabei die Rührung, die der junge Goethe provoziert und sicher auch provozieren wollte, nicht verloren geht. Das bedeutet: Jene Goethe-Leser, die wie Richard David Precht glauben, der Roman sei unglaublicher Kitsch, das Werk kritisieren als eine "verlogene Sozialromantik", werden auch in dieser Version Kitsch entdecken können, wenn sie denn wollen. Vor allem das Schlussbild: Eine Pistole, aus der statt Kugeln rote Blütenblätter geschossen werden. Süßer und weniger tragisch lässt sich der Werthersche Selbstmord schwerlich verstecken und zugleich offenbaren. Zuvor hören wir ein Gespräch zwischen Lotte und Willi, sehen, wie er während des aufgeregten Gesprächs Flüge bucht, um so schnell wie möglich zu Werther zu kommen. Denn natürlich ahnt er dessen Tod.
Was mich interessiert, sind Figuren und ihre inneren Konflikte – und seien wir ehrlich, es sind oft die gleichen Themen, die Menschen durch die Jahrtausende hindurch beschäftigen.
Marcel Reich-Ranicki behauptete 2002 – also vor zwanzig Jahren –, dass jeder gebildete Deutsche diesen Roman gelesen haben sollte. Wäre schön, wenn. Wer diese Adaption gesehen hat, hat den Roman nicht gelesen, aber er oder sie hat ihn erfahren mit den Mitteln des Jahres 2022.
Digitales Theater wird sich dem Präsenz-Theater etablieren. Auch nach Corona. Mir fielen viele Texte und Autoren ein, die sich eigneten: Jean Genets "Zofen", Jakob Michael Reinhold Lenz` "Hofmeister" oder Oscar Wilde. Cosmea Spelleken interessieren zeitgenössische Texte für ihr digitales Theater eher nicht, weshalb sie sich Tschechows "Möwe" als nächste Arbeit ausgesucht hatte. "Um ehrlich zu sein, bin ich mit den zeitgenössischen Texten nicht gut genug vertraut. Was mich interessiert, sind Figuren und ihre inneren Konflikte – und seien wir ehrlich, es sind oft die gleichen Themen, die Menschen durch die Jahrtausende hindurch beschäftigen. Die überzeitliche Gültigkeit von 'alten Stoffen' finde ich immer wieder wunderschön. Dadurch, dass die Geschichten in einem historischen Setting sitzen, fällt es mir leichter, mich unvoreingenommen der Kernthemen anzunehmen und sie auf meine eigene Wirklichkeit zu übertragen. Vielleicht bin ich auch einfach nostalgieverliebt. Wer weiß."
Ist diese Produktion wegen Corona entstanden, oder gab es zuvor schon die Idee eines "digitalen Theaters"? – "'Werther.live' ist aus der Corona Lockdown-Situation heraus entstanden", erklärt Cosmea Spelleken. "Ich selbst habe zwar Medienkunst studiert und komme eher aus der Film-Ecke, bin aber tatsächlich technisch überhaupt nicht versiert, nicht einmal interessiert. Video und technische Spielereien im Theater finde ich meistens sterbenslangweilig, wenn nicht sogar schlichtweg falsch, da diese Mittel meist nur um der Technik Willen eingesetzt werden und nicht inhaltlich motiviert sind. Technik und Digitalität sind für mich nur Trägermedien, über welche sich bestimmte Inhalte, Situationen und Geschichten transportieren lassen; kein Selbstzweck!"
Cosmea Spellekens "digitaler Werther" ist eine Produktion des Kollektivs "punktlive"; und "punktlive" ist eine Künstlergruppe, die sich während der Corona-Pandemie zusammenfand. "Punktlive" habe sich "aus der gemeinsamen Zusammenarbeit an 'werther.live' entwickelt, erzählt die Regisseurin: "Als ich die Idee für das Projekt hatte, habe ich Leonard Wölfl kontaktiert, einen alten Freund vom Film, der sich mit Technik, mit Programmieren, mit der Gestaltung von Webseiten und sogar mit dem Ticketverkauf auskennt. Er hat dann Lotta Schweikert dazu geholt, als Regieassistentin, für die Produktionsleitung. Schließlich war sie auch meine dramaturgische Beraterin. Die Schauspieler Jonny Hoff, Florian Gerteis und Klara Wördemann haben wir online gecastet. Dabei lag der Fokus vor allem auch darauf, ob sie eine gute Kamera- und Online-Präsenz haben. Das spielt im Digitalen, anders als auf der Bühne und im Film, eine viel größere Rolle. Man muss Spieler finden. Wir leben alle in anderen Städten und haben uns zum Zeitpunkt der Kollektivgründung – ungefähr ein halbes Jahr nach Premiere von 'Werther' – noch nie in der Gruppe getroffen gehabt. Inzwischen ist noch Stella Siggelkow für die Produktionsleitung und die Buchhaltung dazugekommen."
Ach, immer diese Kategorien. Beim Film bin ich immer 'die vom Theater' und im Theater immer 'die vom Film'.
Was ist Cosmea Spelleken denn nun: Theater- oder Filmregisseurin? – "Ach, immer diese Kategorien. Beim Film bin ich immer 'die vom Theater' und im Theater immer 'die vom Film'. Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich gern für jede Geschichte, die ich erzähle, das dafür passende Medium verwenden. Das kann auch ein Hörspiel, ein Podcast, eine Doku, ein Essay, ein Videospiel oder eine Fotostrecke sein. Handwerklich fühle ich mich im Moment am sichersten im Film, da mir die intime Erzählweise, mit der man so nah an die Figuren rankommt, am ehesten entspricht."
Die letzten Bilder dieses digitalen Theaters – die Pistole mit den Blumen – könnten Kritikerinnen und Kritiker für kitschig halten. Ängstigt so ein mögliches Urteil Cosmea Spelleken? – "Hm, da würde ich mich fragen, ob das Buch `Die Leiden des jungen Werther` die richtige Lektüre ist, wenn man es nicht zumindest ein bisschen kitschig mag. Natürlich kann man der Produktion vorwerfen, sie sei kitschig. Ich finde, dass man sich Kitsch ruhig auch mal erlauben darf – immer unter der Prämisse, dass es einen tatsächlich persönlich berührt. Alles andere ist billiger Effekt. Mich berührt das Ende des Stückes, und seien wir mal ehrlich: Das Leben ist ja auch manchmal kitschig, warum sträubt sich die (Hoch-)Kultur so dagegen? Ich jedenfalls mag Emotion, ich mag es berührt zu werden, ja auch zum Weinen und zum Lachen gebracht zu werden von Geschichten. Ehrlich und ohne ironischen Unterton. Künstlerischen und inhaltlichen Anspruch von emotionalem Erzählen zu entkoppeln, finde ich falsch. Zumindest für meine eigene Arbeit."
Mehr zum Autor C.Bernd Sucher
C. Bernd Sucher – Autor, Theaterkritiker, Hochschullehrer. Dissertation über "Martin Luther und die Juden"; seit 1998 Professor an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. Mitglied des PEN und der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste. Jury-Mitglied von "Radikal jung" seit der Gründung des Festivals.