Aus dem Vollen

Das Radikal Jung Festival 2023 ist vorbei. Schee war’s. Intensiv war’s. Neun Tage Theater nonstop, lange Nächte, Bier aus dem Allgäu, Inszenierungen aus Deutschland, Österreich und der Welt, Late-Night-Shows, Gewitter, Blitz und Sonnenschein.

Text: Anne Fritsch

Am Ende des diesjährigen Radikal-Jung-Festivals bleibt vor allem ein Eindruck: Das Zwischenmenschliche brummt. Nicht nur bei der Strip-Show von Magic Dyke* im Substanz und im Hof des Theaters, bei all den Vor- und Nach- und Zwischendurch-Gesprächen, bei Büble-Bier und jeder Menge Falafel. – Auch auf der Bühne beziehungsweise den drei Bühnen des Volkstheaters zeigte sich: Was in der Gesellschaft schief läuft, lässt sich famos in Mikro-Gesellschaften zeigen. Immer wieder ging es in diesen neun Tagen also um die Familie, in deren Kreis sich ja bekanntlich die größten Tragödien abspielen. "Es bleibt in der Familie", heißt es einmal. Und spätestens seit "Mein Leben in Aspik" weiß man, dass das nicht unbedingt von Vorteil ist. Aber weil das Theater eben einen Hauch Drama braucht, sind es halt nicht die Friede-Freude-Eierkuchen-Familien (sofern es diese denn überhaupt gibt), sondern die dysfunktionalen, um die sich hier alles dreht. Die ein bisschen oder ein bisschen mehr "meschugge" sind, wie Jury-Mitglied C. Bernd Sucher im Gespräch zu "Mein Leben in Aspik" so treffend sagte.

Mein Leben in Aspik (c) Arno Declair

Diese Inszenierung, eine Bearbeitung von Steven Uhlys gleichnamigen Roman, kommt vom Deutschen Theater Berlin. Friederike Drews hat aus der spektakulär abstrusen Vorlage ein rasantes Zwei-Personen-Spiel mit Masken gemacht, das sich so schnell dreht und wendet, bis wirklich niemand mehr weiß, wer hier nun eigentlich wen geschwängert hat und wer wie mit wem verwandt ist. In diesem inzestuösen Familiengeflecht, das seinen Ursprung im ominösen Nachkriegs-Pornogeschäft des Großvaters nahm, nimmt der Vater auch mal dessen Platz an Omas Seite ein oder der Enkel wird seinerseits zum Vater seines eigenen Onkels: "Mein Sohn Heinz lebt mit Oma in Berlin und glaubt noch immer, dass ich sein Neffe bin."

Uhly – und Drews – drehen die Schraube immer noch weiter. Am Ende, als alle (?) Mordkomplotte, Sexspiele der Großeltern (schwangere Flüchtlingsfrau trifft Rotarmist), heimliche Liebschaften innerhalb der engsten Familie, Nazi- und Porno-Verstrickungen aufgedeckt sind, fragt sich wohl selbst der Enkel, warum um alles in der Welt er seine Oma nach der Familiengeschichte gefragt hat. "Es ist nicht leicht, die Bürde der Familie zu tragen, aber du entkommst ihr nicht", heißt es einmal. "Du hast keine andere." Wie wahr. – Das Publikum, das kaum glauben kann, was da alles abgeht, verlässt den Raum mit dem sicheren Gefühl, dass die eigene Familie beruhigend durchschnittlich ist.

 

Natürlich haben nicht alle eingeladenen Produktionen familiäre Hintergründe. Stef van Looverens kunstvolle Performance "Radical Hope – Eye to Eye" war so was wie ein ästhetischer Erlebnisraum für alle Sinne, auf den sich jede:r einen eigenen Reim machen durfte, geflasht von all den Eindrücken, von lauter Musik, Erde, Blumen, Schlamm, Erotik und (fast) nackten Menschen, die sich in Kunstwerke verwandelten. Das Institut für Medien, Politik & Theater nahm das Publikum in "Gondelgschichten" mit in die (durchaus auch wieder familiären) mafiösen Verstrickungen der Tiroler Tourismusindustrie. Was in Tirol wahr ist, könnte man sich besser oder absurder kaum ausdenken. "The Dan Daw Show" weckte mit all ihren vorangehenden Triggerwarnungen und auch den Einlassungen von Dan Daw selbst ein einigermaßen hohes Spannungslevel. Es werde "kein Blut, keine Exkremente, keine extremen Schmerzen und – leider – kein Ficken" geben, kündigte Daw an und ließ der Fantasie freien Raum, was stattdessen alles folgen könne. Es war schließlich die Selbstermächtigung eines Mannes, der sich selbst einen "Crip", einen Krüppel, nennt und der Welt selbstbewusst zeigt, wie er sich selbst sieht. Mathias Spaans Adaption des Romans "8 1/2 Millionen" von Tom McCarthy am Münchner Volkstheater ist ein schillerndes Spiel mit der Illusion, mit Schein und Sein – und dem Konstrukt von Wirklichkeit. Was genau Luise Voigt mit ihrer Bearbeitung von Michail Bulgakows "Der Meister und Margarita" am Nationaltheater Weimar erzählen wollte, blieb leider ein wenig unklar im wilden Treiben auf der spektakulären Bühne von Natascha von Steiger.

 

Dschinns (c) Maximilianborchardt

Odyssee

Zwiegespräch (c) Hassler-Smith

GRM. Brainfuck (c) Hupfeld

 

Ansonsten aber: Familiengeschichten allerorten. Zerstörte Familien in Dennis Duszczaks lauter und intensiver Inszenierung von Sibylle Bergs "GRM. Brainfuck" vom Theater Dortmund; unüberbrückbare Generationenkonflikte zwischen Enkelinnen und Großvätern in Rieke Süßkows Version von Peter Handkes "Zwiegespräch" am Burgtheater Wien; eine deutsch-türkisch-kurdische Familiengeschichte voll von wohlgehüteten Geheimnissen in "Dschinns" nach dem Roman von Fatma Aydemir, ein wenig statisch inszeniert von Selen Kara am Nationaltheater Mannheim. Dramaturg Pavlo Arie und Regisseur Stas Zhyrkov untersuchten Homers "Odyssee" am Düsseldorfer Schauspielhaus auf Parallelen zum Krieg in der Ukraine – und fanden sie in der Geschichte der Penelope, der wartenden Frau, deren Mann im Krieg ist. Mit einem Laien-Ensemble mit Frauen und Kindern aus der Ukraine und Düsseldorf erzählten sie die Geschichte der abwesenden und fehlenden Männer, der getrennten Familien.

 

 

Jan Friedrich verwandelte Georg Büchners Fragment des Mannes, dem es nicht gelingt, seine Familie finanziell zu versorgen, am Theater Magdeburg in ein live gespieltes Computerspiel. Sein "Woyzeck" kann zwar aus den Schwierigkeitsgraden "leicht", "mittel", "schwer" und "demütigend" wählen, die Mission, Geld für seine Familie zu besorgen, wird nichtsdestotrotz zur sich in Endlosschleife wiederholenden Dauermission. Welche der vorgeschlagenen Handlungs-Optionen er auch wählt: die Erfolg bringende scheint nicht darunter zu sein. Er ist gefangen in einem System, das es ihm schwer oder gar unmöglich macht, sein Ziel zu erreichen. Selten war dieses alte Stück so jung, so aktuell.

Auch Annie Ernaux’ Roman "Das Ereignis", in dem die Literatur-Nobelpreisträgerin von ihrer illegalen Abtreibung im Frankreich der 1960er Jahre erzählt, hat durch die zahlreichen Abtreibungsverbote wieder an Brisanz gewonnen. Annalisa Engheben hat den Text mit drei Schauspielerinnen am Hamburger Schauspielhaus inszeniert. Dicht um eine Skulptur von Sanghwa Park sitzen die Zuschauer:innen, sehen sich mit diesem abstrus großen Körperding konfrontiert, das so vieles impliziert: den eigenen, fremd gewordenen Körper; das unsichtbare Etwas, das sich im Inneren breitmacht und alles verändert; vor allem aber den Verlust der Selbstbestimmtheit. Ernaux Text ist von einer kaum fassbaren Ehrlichkeit und Schonungslosigkeit, sich selbst und den anderen gegenüber. Die drei Spielerinnen hadern mit ihm, mit sich, mit dem Unfassbaren. Selten war ein Theaterabend so intensiv, so dicht, so schmerzhaft gut.

 

Preisverleihung (c) Gabriela Neeb

Kurator*innen und Intendant (c) Gabriela Neeb

Publikumsgespräch mit Jan Friedrich (c) Gabriela Neeb

Den Publikumspreis gewann am Ende des Festivals die Produktion "Sistas!", diese charmant-witzig-kluge Adaption von Tschechows "Drei Schwestern", die das Kollektiv Glossy Pain an der Berliner Volksbühne inszeniert hat. Hier werden die eigenen Vorurteile gnadenlos enttarnt, jede:r schaut auf irgendwen herab, es gibt immer ein "noch weiter unten" in der Hackordnung der Diskriminierten. Es fallen Sätze wie "Die sind doch Ausländer" oder "Stell dir vor, alles sei möglich. Verhalt dich wie ein weißer Mann!". Dieser Abend ist so lustig wie bitter, es gibt Pausen-Eis und einen spooky Moment, vor dem keine Triggerwarnung gewarnt hat. Hier ist eben nichts, wie es auf den ersten Moment scheint – und jede:r hat noch ganz andere Facetten als die offensichtlichen. Keine:r entspricht nur dem Bild, dass sich die anderen machen. Wie in einer echten Familie eben.

Im Laufe dieser Woche ist auch das Publikum zu einer Art Familie geworden, einer nicht ganz so meschuggenen vielleicht, das Volkstheater zu einem zweiten Zuhause. Corona scheint nun wirklich überwunden, das neue Theater konnte samt Festival komplett aus dem Vollen schöpfen, eine Woche lang das Theater und den Nachwuchs feiern. Am letzten Tag sind alle ein bisschen durch, aber glücklich. Wie war das noch in Helmut Dietls "Münchner Gschichten"? "So is des im Lebn, zuerst is schee, dann is auf amoi ois vorbei." – Zum Glück nicht für immer, wie Intendant Christian Stückl nach der Preisverleihung verspricht: "Wir machen’s wieder!" Auf dann, auf 2024!

Mehr zur Autorin

Anne Fritsch (c) Jan-David Bürger

Anne Fritsch studierte Theaterwissenschaft und Germanistik an der LMU München, dann Kulturkritik an der Theaterakademie August Everding. Seitdem arbeitet sie als freie Autorin und Redakteurin für verschiedene Tageszeitungen und Zeitschriften wie Die deutsche Bühne. 2021 hat sie die Heftleitung der Jungen Bühne übernommen.