Das Unbewusste ins Bewusstsein holen
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Text: Theresa Luise Gindlstrasser
Massiv und rosa, lila und unheimlich, nimmt eine Skulptur den Platz in der Mitte des Publikumsovals ein. Die unübersichtlich ineinander verschlungenen Arme und Beine sind unübersehbar zur Schau gestellt. "Jetzt", so schreibt Annie Ernaux 1999 in "Das Ereignis" über ihre Schwangerschaft 1963/64, "war mir der 'Himmel der Ideen' verschlossen, ich hing mit meinem von Übelkeit geplagten Körper darunter fest". Das Nachdenken über die Erfahrung einer unbedingten Festschreibung auf ein bestimmtes Geschlecht und eine bestimmte Klasse zieht sich als roter Faden durch die Erzählung vom Schwangerschaftsabbruch der späteren Literaturnobelpreisträgerin – "Verzweiflung. Das Ding muss weg."
Die Skulptur aber bleibt. Und behauptet sich in der deutschsprachigen Erstaufführung des Textes am Schauspielhaus Hamburg gegen alle Beseitigungs- oder Bewältigungsversuche seitens der drei Schauspielerinnen. Sandra Gerling, Josefine Israel und Sasha Rau schlagen, putzen und besteigen das Gliedmaßen-Gebilde, suchen Schutz unter ihm, stemmen sich dagegen, umringen es unter körperlicher Kraftanstrengung oder mit blauen Fäden, vom Platz im Zentrum weg bewegen lässt sich das Objekt der Bühnenbildnerin Sanghwa Park jedenfalls nicht.
Sie selbst, so die Regisseurin Annalisa Engheben im Gespräch, habe "Das Ereignis" auf Deutsch, Englisch und in ihrer Erstsprache Italienisch gelesen. Aufgrund der Koreanisch- bzw. Französisch- Kompetenzen innerhalb des Teams sei es jedoch möglich gewesen, die deutsche Übersetzung in einem weiten Spannungsfeld unter anderem auch mit der Ausgangssprache zu diskutieren. Gemeinsam mit der Dramaturgin Finnja Denkewitz adaptierte Engheben "Das Ereignis" unter behutsamen Strichen und Umstellungen für die Bühne. "Auf das Wesentliche fokussieren – das ist es, was wir unternommen haben, und das ist es, worauf es für mich generell beim Inszenieren ankommt. Ich will beim Wesentlichen ankommen. Und dabei versuchen, eine Sache wahrhaftig und in aller Direktheit zu durchdringen".
Sie werde oft gefragt, wieso sie ihre Karriere als professionelle Synchronschwimmerin – zum Beispiel als Teil des deutschen Kaders bei der WM 2017 – oder als Stuntwoman für die Netflix-Serie "Sense8" in ihrer Theaterbiografie festhält. "In der Regie finden für mich die verschiedenen Fäden meines Lebens, die Liebe zur Literatur und die Arbeit mit dem Körper, zueinander. Zum ersten Mal ergibt alles Sinn. Ich liebe es, auf der Bühne unterschiedliche Ebenen zu etablieren“. Die deutsche Literatur im Allgemeinen und "Tonio Kröger" von Thomas Mann im Besonderen waren für Enghebens Biografie entscheidende Faktoren. "Diese Sprache! Ich fühle mich wohl da drinnen. Wohler sogar als im Italienischen. Und mit dem Körper ergeben sich noch einmal ganz andere Ausdrucksmöglichkeiten, um eine innere Welt nach außen zu bringen. Was zum Beispiel am Synchronschwimmen überdeutlich wird: Dass die gemeinsam eingegangenen Beziehungen und die so entstehenden Bilder weit über das hinausreichen, ja, gleichzeitig etwas ganz anderes erzählen können als die einzelne Person".
Dass in Enghebens Inszenierung nicht nur eine, sondern drei Schauspielerinnen auf der Bühne stehen, das kommt also nicht von ungefähr. Und das kommt dem Ernaux`schen Erzählen im Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft gleich. Über die Konsequenzen der in Frankreich ab 1975 veränderten Rechtslage schreibt diese, dass "ein gerechtes Gesetz die früheren Opfer paradoxerweise fast immer mundtot macht, im Namen von 'es ist alles längst vorbei', sodass das Geschehene weiter totgeschwiegen wird". Auf der Bühne erheben Gerling, Israel und Rau ihre Stimmen zu einer gemeinsamen Erzählung. Wie sie einander die Stichworte geben, das funktioniert so aufeinander bezogen und solidarisch, wie es brüchig und sprunghaft durch die Tage und Monate geht. Die rüschigen Schichten der Kostüme von Teresa Heiß mal am Bauch, mal an den Schultern ausstopfend, probieren die drei Schauspielerinnen Verbindungen zum "Unförmigen" bei Ernaux. Für dialogische Szenen wiederum individualisieren sie ihr Spiel und nehmen die Positionen derjenigen ein, denen die Protagonistin in der Illegalität ihres Abtreibungswunsches begegnet.
So klopft Rau als Gynäkologe Doktor N. geschäftsmäßig behutsam nach den Reflexen der Skulptur. Gesetzestreu die angebrachten Untersuchungsanweisungen gebend und die angemessenen Anamnese-Fragen stellend, unterbindet er mit der raschen Abfolge von Sätzen jede genuine Gegenreaktion. Hier ist jemand am Werke, der "innerhalb des Gesetzes, nicht über das Gesetz" urteilt. Jemanden, der die Macht, die ihm das Wissen um das Geheimnis der Protagonistin verschafft, missbrauchen will, gibt Gerling mit ihrer Darstellung des Jean T. und ändert abrupt die Laufrichtung, als dem Kommilitonen in den Kopf schießt, dass die junge Frau sich nicht nur hilfesuchend an ihn als Konspirateur wendet, sondern ihm auch patriarchal ausliefert ist: "Du bist doch sowieso schwanger. Es kann nichts passieren".
Ausführlicher als diese kurzen Momente des Rollenspiels gestaltet Engheben die Situation mit der schlussendlich in Paris aufgefundenen Madame P.-R., welche die Abtreibung für teure 400 Francs durchführen wird. Der Raum in violettes Licht getaucht, steht Israel erhöht auf einem Podest. Sie wiederholt den Satz "Worum geht es, Mademoiselle?" und begibt sich in eine gebückte Körperhaltung hinein. So bittet eine auf einmal alte Frau mit Gesten der Kurzsichtigkeit und einer von der jahrzehntelangen illegalen Arbeit geprägten Stimme zur Türe herein. Das "Bild des Zimmers", von dem Ernaux schreibt: "Es entzieht sich der Analyse. Ich kann nur darin eintauchen", entsteht mitsamt seiner klassenspezifischen Ausstattung in der Spielweise Israels.
Mein doppelter Wunsch: dass das Ereignis zum Geschriebenen werde. Und das Geschriebene Ereignis sei.
Die körperliche Nähe des Publikums zu Gerling, Israel und Rau – die auch mal Platz nehmen und gemeinsam mit allen anderen auf die unförmige Skulptur im Zentrum blicken – lässt die Distanz zum Geschehen in Vergessenheit geraten. Und erst in den Momenten plötzlicher Lichtwechsel, wenn der Text von der Tagebuch- und Kalender-Ebene der 60er Jahre auf die Ebene des Aufschreibens kurz vor der Jahrtausendwende wechselt, also erst in den Momenten, wo die unmerklich dahin pulsierende Musik von Ellen King plötzlich aussetzt, wird mit der dann eingetretenen analytischen Stimmung ausdrücklich, dass davor ein intensives Eintauchen in die Geschichte stattgefunden haben muss. Den Schriftsteller und Ethnologen Michel Leiris zitierend, heißt es bei Ernaux: "Mein doppelter Wunsch: dass das Ereignis zum Geschriebenen werde. Und das Geschriebene Ereignis sei." In Enghebens Regie werden daraus 75 Minuten des Eingetaucht-Seins und des Analyse-Vorgangs, wobei keiner der beiden Zustände für sich steht, sondern sich beide in der Absetzung voneinander, das heißt in der Verbindung zueinander, artikulieren.
Im Gespräch kommt Engheben immer wieder auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zu sprechen. So sei das Theater ein Ort, wo Unbewusstes ins Bewusstsein geholt werden könne. Und: "Mit einer veränderten Perspektive der Einzelnen kann eine gesellschaftliche Transformation beginnen. Das Theater hat die Kraft, die Menschen fast zu zwingen zur Konfrontation mit Tabuisiertem. Dort sitzend, bekommen wir es mit Themen zu tun, die wir im Alltag vermeiden. Manchmal eine Stunde, manchmal sechs Stunden lang, gehen wir eine Verbindung mit dem Verdrängten ein. Im Spiegel der Bühne liegt Transformationspotenzial. Individuelle Erfahrungen als Symptome gesellschaftlicher Dynamiken lesbar zu machen, das ist die Arbeit, für die ich stehen will. Deswegen fühle ich mich auch sehr von der französischen Literatur angezogen. Dort findet eine hoch politisierte Auseinandersetzung mit der Gesellschaft, in der wir leben, statt".
Und so arbeitete Engheben, die zunächst in Verona, dann in Berlin Philosophie studierte und nach zwei Spielzeiten am Schauspiel Stuttgart seit 2020 als Regieassistentin am Deutschen Schauspielhaus Hamburg engagiert ist, in ihren drei bisher für die Bühne entstandenen Inszenierungen jeweils mit einem Werk der französischen Literatur. Den Anfang machte "Die Nacht kurz vor den Wäldern" von Bernard-Marie Koltès 2020 in Stuttgart. Auf einer düsteren, nur voyeuristisch angeleuchteten Bühne mit Wasserbecken stellte Engheben hier den Schauspieler David Müller und sein Aufgehen im mäandernden Monolog in den Fokus der Aufmerksamkeit.
Der Skulpturen-Körper in der Mitte des Publikumsovals steht auch am Ende des filigranen Theaterabends ungerührt – ungerührt all der brutalen Ereignisse, die Ernaux zu „Das Ereignis“ verdichtete. Die Unheimlichkeit dieses Gliedmaßen-Gebildes überbrückt den Abstand von rund 60 Jahren, der zwischen damals und heute liegt. "Die Zeit war keine unmerkliche Abfolge von Tagen mehr, die man mit Vorlesungen und Referaten füllte, mit Besuchen in Cafés oder in der Bibliothek, und die zu Prüfungen, den Sommerferien oder in die Zukunft führte. Sie war zu etwas Unförmigem geworden, das sich in mir entwickelte und das es um jeden Preis zu zerstören galt". Nach dem Schwangerschaftsabbruch muss die Protagonistin aufgrund lebensbedrohlicher Komplikationen ins Krankenhaus und bangt: "Wie lautet mein Befund?". "Fehlgeburt", formuliert Rau als Krankenschwester, und die drei Spielerinnen verlassen das Feld.
Mehr zur Autorin
Theresa Luise Gindlstrasser, geboren 1989, lebt in Wien und schreibt als freie Kritikerin für Falter, Standard, Theater der Zeit und andere. Hat Philosophie und Kunstwissenschaft in Linz und Szenisches Schreiben in Graz studiert und arbeitet als Anah Filou an Theatertexten. War an der Akademie der Bildenden Künste Wien in der Klasse für Performative Kunst und Teilnehmerin an der Akademie für zeitgenössischen Theaterjournalismus des Bündnisses internationaler Produktionshäuser in Deutschland. Von 2017 bis 2022 Mitglied des Beirats für Darstellende Kunst Österreich, derzeit Teil der Theatertreffen-Jury.