Der Null-Komma-Null-Shootingstar
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Text: Maresa Sedlmeir
"Okay, danke, wir machen das nochmal." Dieser Satz war auf der Probebühne des Münchner Volkstheaters in Dauerschleife zu hören. Er kam von Mathias Spaan, dem Regisseur der Inszenierung "8 1/2 Millionen", und er sagte ihn oft. Sehr oft. So ähnlich kamen diese Worte auch im Stück vor, was nicht nur die Schauspieler:innen wahnsinnig machte. Ein Stück im Stück, Aneinanderreihung an Aneinanderreihung, Schleife um Schleife.
Doch von vorn: Ein Frühlingstag im Jahr 2022, Mathias Spaan sitzt vor seinem Laptop. Ein Zoom-Call mit dem Münchner Intendanten Christian Stückl und dem Dramaturgen Leon Frisch steht an. Frisch und Spaan kennen sich noch aus Uni-Zeiten, sie haben gemeinsam an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg studiert. Zusammengearbeitet haben sie noch nie, aber Leon Frisch hat Spaans Arbeitsweise immer imponiert: "Damals war ich fasziniert von Mathias, weil er eine ganz eigene Art hat, mit dem Raum umzugehen. Und er hat ein großes Gespür für die Poesie von Vorgängen."
Als die Intendanz auf die Suche nach neuen Regietalenten ging, schlug Leon Frisch spontan seinen ehemaligen Kommilitonen vor. Der war nach seiner Abschlussarbeit, einer Inszenierung der "Unendlichen Geschichte" von Michael Ende, als fester Regisseur am Schauspiel Bern engagiert. Noch während des Studiums erhielt er für seine "Nibelungen"-Inszenierung am Landestheater Niederösterreich den Nestroy-Preis als "Bester Nachwuchs männlich". Spätestens dann hatte sich Spaan einen Ruf als Regie-Shootingstar erarbeitet. Sich selbst so zu bezeichnen, liegt dem vierunddreißigjährigen Regisseur aus dem Ruhrpott fern: "Ich fühle mich null Komma null wie ein Shootingstar."
Jedenfalls saß er da, der Null-Komma-Null-Shootingstar, und betrat den Zoom-Raum. Was er sah: Graue Locken und Qualm. Viel Qualm. Zu dem Zeitpunkt rauchte Christian Stückl noch, und so tat er es auch an diesem Tag. Woran sich Mathias Spaan noch erinnert: "Ich hab‘ gesagt, ja hallo, freut mich, Sie kennenzulernen." Stückl: "Mia lerna uns doch gar ned kenna, des is doch bloß Zoom." Zugegeben, der Start klingt etwas holprig. Dennoch entscheidet sich Christian Stückl schnell, Mathias Spaan eine Chance zu geben. Kurz nach dem Gespräch war die Verabredung getroffen, dass Spaan am Volkstheater inszenieren wird, erzählt der Dramaturg Leon Frisch.
Mathias Spaan macht Theater, seit er ein Kind ist. Er studierte Schauspiel in Graz, war am Staatstheater Mainz und in Hannover engagiert, begann sich aber nach sechs Jahren als Schauspieler für das Regiestudium zu interessieren. Weil es ihm nicht gereicht hat? "Ich glaube, das ist der Wunsch, das Theater irgendwie zu durchdringen oder zumindest in allen Facetten zu erleben."
Immer wieder betont er, dass das alles gar nicht seine Arbeit sei, sondern die seines Teams. Mit der Bühnenbildnerin Anna Armann, die er an der Hochschule in Hamburg kennengelernt hat, arbeitet er seit dem Studium zusammen. Sie, den Dramaturgen Leon Frisch und das Volkstheater konnte er als einzige von der Idee zu "8 1/2 Millionen" begeistern. "Ich hab‘ es vielen Theatern angeboten, aber alle haben abgelehnt. Entweder, weil der Roman zu unbekannt war, oder weil sie nichts damit anfangen konnten. Die Münchner waren die ersten, die gesagt haben, ja komm, mach."
Und sie machten. Spaan und Frisch lasen den Roman mehrere Male, kürzten ihn, strichen ihn zusammen. Der Thriller "8 1/2 Millionen" vom englischen Autor Tom McCarthy handelt von einem jungen Mann, der bei einem Unfall sein Gedächtnis verliert. Als Entschädigung bekommt er 8,5 Millionen Pfund. Seitdem begleiten ihn nicht nur fette Geldscheine, sondern auch beunruhigende Gedanken. Das Gefühl, die Welt sei falsch, verfolgt den Protagonisten auf Schritt und Tritt. Wie geht man damit um, wenn man sein Leben neu denken muss? Bei vielen Menschen strudeln bei dieser Frage die Gedankenkreise los. So auch bei Mathias Spaan und seinem Team.
Spielerisch geht das Ensemble auf die Suche nach dem "Ich" des Protagonisten. Immer weiter verstrickt sich dieser in Loops und Reenactments, lässt von Statist:innen und Schauspieler:innen sein Leben nachspielen. "Ok, machen Sie das nochmal!" befiehlt der Protagonist, der zum Regisseur, Kostümbildner, Dramaturgen, Intendanten, Autor und Bühnenbildner seines eigenen Lebens wird. "Und aus", brüllt plötzlich eine andere Stimme, nochmal von vorn. Die Technik baut die Bühne um, und spätestens ab Minute 14 ist man verwirrt. Im schönsten Sinne. Was ist echt? Was ist Stück? Was ist Wahrheit?
Die Bühnenbildnerin Anna Armann setzt die vier Schauspieler:innen an einen langen Tisch, wie bei einem Casting hocken sie gespannt da und starren in den Zuschauerraum. Die Bühne kann sich schnell verändern, zwei Treppen führen hinein und hinaus aus dem Raum, es ist fast beleidigend einfach in seiner Genialität. Auch die Kostüme sind im besten Sinne einfach. Durch Paula de la Hayes Entwürfe können die Schauspieler:innen ihre Rollen wechseln wie Unterhosen. Sie müssen nur die Jacke ausziehen und sind, schwupps, eine andere Figur. Durch diesen Kniff können alle Spielenden die Hauptrolle übernehmen, sie alle werden irgendwann zum "Typen", der sein Gedächtnis verliert – so bleibt die Kategorisierung in Haupt-und Nebenrollen aus. Die Schauspieler:innen Liv Stapelfeldt, Jan Meeno Jürgens, Steffen Link und Janek Maudrich sind schnell und wach. Sie begeistern mal chorisch, mal solistisch, aber immer als Ensemble. "8 ½ Millionen" ist ein Gesamtkunstwerk aus Regie, Spiel, Musik, Dramaturgie, Bühnen- und Kostümbild.
Paula de la Haye, die Kostümbildnerin, kannte Spaan vor der Zusammenarbeit noch nicht. Sie trafen sich in Hamburg, gingen – ironischerweise – stundenlang im Kreis spazieren und wussten, dass es zwischen ihnen passt. De la Haye erinnert sich sehr gern an die Zusammenarbeit. "Ich wünsche jedem so jemanden wie Matthias in seinem Leben. Wenn er da ist, werd ich immer ganz ruhig. Er holt einen runter." Wenn man Spaan mit solchen Komplimenten konfrontiert, lacht er. Und man hat das Gefühl, dass er sich ehrlich freut. Viel mehr will er nicht dazu sagen, man könne doch jetzt wieder das Thema wechseln.
Auch die Schauspielerin Liv Stapelfeldt berichtet von der Zusammenarbeit mit Mathias Spaan. Wenn sie ihn mit einem Wort beschreiben müsste, wäre das: Tüftler. "Ab Probe drei war er im Arbeitsmodus hoch 1000." Nach den Probenzeiten, die immer eingehalten wurden, sei Spaan oft noch stundenlang auf der Probebühne geblieben und selbst auf die Bühne gegangen. Er habe herumprobiert, bis er auf eine neue Idee gekommen sei, auf eine Lösung für ein Problem, die er am nächsten Tag seinem Ensemble präsentieren konnte.
Das bedeutet jedoch nicht, dass er den Schauspieler:innen und seinem Team in der Arbeit keine Freiräume gelassen habe. Stapelfeldt glaubt, es gab schlicht eine „große Identifikation mit der Hauptfigur“, und Spaans enormes Interesse am Roman und seiner Umsetzung habe dazu geführt, dass es schnell "existenziell" geworden sei. "Es war anstrengend. Und wir mussten richtig klotzen", so Stapelfeldt. Gleichzeitig ist Spaan, und da ist sich sein ganzes Team einig, ein Anti-Narzisst und ausgesprochen zugänglich.
Für Paula de la Hayes Geschmack fast schon zu zugänglich! Selbst, wenn Verabredungen nicht eingehalten wurden, habe Spaan nie geschimpft. Spaan weiß das, doch er sagt: "Man darf das nicht verwechseln mit 'keinen Plan haben' oder 'alles durchgehen lassen', aber man sollte immer angstfrei arbeiten können." Man hat das Gefühl, streng sein kann er nur zu sich selbst. Und durch seine eigene Arbeit als Schauspieler weiß er, wie es sich anfühlt, einem Regisseur ausgeliefert zu sein.
Es war anstrengend. Und wir mussten richtig klotzen.
Die sanftmütige Güte, die Mathias Spaan auszeichnet, ist für einen Regisseur leider immer noch ungewöhnlich. Es scheint fast so, als hätten sich alle Beteiligten der Produktion ihre Grenzen selbst setzen müssen, was im autoritär strukturierten Theaterkontext eine Seltenheit ist – und eine Herausforderung. Sobald sich das Team gefunden hatte, war da aber viel Kollektivität, viel Rückhalt, viel Aufeinander-Verlassen. Das spürt man in jedem Gespräch. Die Beteiligten haben meist ein Grinsen auf den Lippen, wenn sie über ihren Regisseur sprechen. "Wir sind nicht mal halb tot in die Endproben gegangen" erinnert sich die Schauspielerin Liv Stapelfeldt.
Der Einzige, der zumindest ein bisschen tot war, war Mathias Spaan. Seit er Regie mache, rauche er zu viel, sagt er. "Ich hör aber nachher immer sofort wieder auf." Ein Nachher ist aber auch immer ein Vorher: Angebote, Regie zu führen, gibt es viele.
Bereits 2020, mit dem Nestroy, dem renommierten österreichischen Theaterpreis, war ein erster Schritt zur großen Regiekarriere getan. Mathias Spaan weiß noch genau, wie auf einmal eine goldene E-Mail mit der Nominierung in seinem Postfach aufploppte. Die Dame, die die Mail verfasst hatte, bräuchte bitte sofort seinen Skypenamen. Etwas beschämt schrieb er eine E-Mail zurück: "Mein Skypename ist Fantaklaus." Die Dame habe "Rotz und Wasser gelacht", wie sie ihm später erzählte.
Bei aller Leidenschaft muss man dringend aufpassen, dass einen das Monster 'Theater' nicht verschlingt.
Eine ordentliche Portion Selbsthumor und Ironie sind für Spaan wichtig. Das betonen alle, die mit ihm zusammengearbeitet haben, immer wieder. Man merkt das auch der Inszenierung an, die vor leisem Humor nur so strotzt. Wenn das Partyspiel "Wer bin ich" auf der Bühne gespielt wird, kommt man sich – zumindest kurz – wie bei Freund:innen in der WG-Küche vor. Das, was Spaan und sein Team auf die Bühne bringen, ist – bayerisch formuliert – "a guade Gschicht."
Geschichten erzählen kann Mathias Spaan, und das Publikum sehnt sich danach. Auch den Theatern fällt das auf, sie merken, wie gut der Regisseur, seine Lust auf Theater und seine Bescheidenheit ankommen – und wollen den Wahl-Hamburger Spaan für sich gewinnen. Nach dem Stück am Volkstheater inszenierte er gleich das nächste in Bern. Mathias Spaan: "Danach brauch ich erstmal eine Pause. Bei aller Leidenschaft muss man dringend aufpassen, dass einen das Monster 'Theater' nicht verschlingt."
Bevor es im Herbst mit einer Regie in Berlin weitergeht, widmet er sich seiner Freundin in Schweden, dem Schwalbefahren und seinem zweiten Beruf, dem Spieleerfinden. Schon als Kind habe er Spiele geliebt, am besten fand er Tabu und Romme gegen seine Oma. Seine Familie in Bottrop, die nichts mit Theater am Hut hat, möchte er in der nächsten Zeit auch öfter sehen. Und wer weiß – vielleicht kehrt Mathias Spaan nicht nur für das Radikal-Jung-Festival nach München zurück.
Mehr zur Autorin
Maresa Sedlmeir, geboren 1995, schloss 2018 ihr Bachelor-Studium in American Studies und Kunst, Musik, Theater an der LMU München ab. Anschließend studierte sie Kulturjournalismus an der Hochschule für Fernsehen und Film und der Theaterakademie August Everding. Sie schreibt unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, das Münchner Feuilleton und für das Online-Magazin good issue. Darüber hinaus arbeitet sie als Synchronschauspielerin und Sprecherin.