"Dieser Dreck ist überall"
Datum
Interview: Sophie-Margarete Schuster
Die Grundlage deiner Inszenierung bildet Ágota Kristófs epische Auseinandersetzung mit dem Krieg und seinen Auswirkungen auf den Menschen. Was hat dich an dem Text Ágota Kristófs gereizt?
Ran Chai Bar-zvi: Ich liebe die reduzierte Sprache Kristófs. Die Schlichtheit und die Alltagspoesie, die ihre Romane haben, versuche ich auch in meine Arbeiten einzubauen. Als ich das Buch zu Ende gelesen habe, war ich sehr beeindruckt: Die Kindheit, die dort beschrieben wird, ist sehr ähnlich zu der Kindheit meiner Großmutter. Sie ist gestorben, kurz bevor ich mich für diesen Stoff entschieden habe. Meine Großmutter ist in Polen geboren, an der Grenze zur Ukraine, in einem jüdischen Dorf. Als die Nazis kamen, haben sie in dem Dorf die Juden in die Synagoge gesperrt und das Gebäude angezündet. Die Familie meiner Großmutter hat es geschafft, in die Ukraine zu fliehen. Sie haben sich in einem Grenzdorf bei einem Bauern versteckt. Deswegen hat sich das Buch für mich so persönlich angefühlt. Ich selbst bin auch in einer Kriegssituation aufgewachsen, in Jerusalem. Aus diesem Grund war es mir wichtig, die Kinder im Roman als Kinder wahrzunehmen. Wenn ich sie entmenschlichen würde, wäre ich meiner eigenen Biografie untreu.
Krieg vergiftet die Seele – die von den Tätern und die von den Opfern.
Die Darstellung einer solchen isoliert-menschlichen Perspektive ist sicher im Laufe der Proben immer wieder von der politischen Realität unserer Gegenwart eingefärbt worden. Welchen Einfluss hatten die Kriege innerhalb und außerhalb Europas auf deine Arbeit? Und was hast du bei dieser theatralen Beschäftigung mit dem Krieg lernen können?
Es war immer in der Luft. Für mich war es besonders interessant zu sehen, wie schnell Menschen – auch ich – in solchen komplexen Situation die Grauzonen vergessen: dass man auch die Helden kritisieren kann; zu merken, wie viele kleine Grauzonen es gibt, diese Nuancen und die vielen kleinen Perspektiven. Deswegen ist es mir wichtig, nicht so zu tun, als ob ich etwas besser wüsste oder etwas erklären könnte. Krieg vergiftet die Seele – die von den Tätern und die von den Opfern, der Krieg steckt in ihnen, dieser Dreck ist überall. Und die Arbeit an dieser Produktion hat mir Zeit gegeben, mehr darüber nachzudenken, welche Spuren der Krieg in uns hinterlässt und was wir machen können, um das zu heilen. Auch mit dem Blick auf Gaza: Der Krieg wird irgendwann vorbei sein, aber die Spuren des Krieges bleiben; und das müssen wir als Gesellschaft im Kopf behalten.
Worin liegt für dich die Besonderheit dieser kindlichen Kriegserfahrung? Und wie hat sie in deiner Arbeit den Weg auf die Bühne gefunden?
Es ging nicht darum, die Kinder nachzuspielen, sondern darum, sie als Kinder zu begreifen. Wir haben viele Spiele gespielt auf den Proben – also richtig so Fangen und Blindekuh. Aus diesen Kinderspielen haben wir die Kriegssituation auf der Bühne gebaut. Denn ich glaube, die Perspektive des Kindes ist erstmal eine unpolitische. Es gibt für die Figuren zunächst keinen großen sozialen Kontext. Es geht immer um das einzelne Erleben. Deswegen ist es so universell. Das macht den Text von Kristóf so schön: Er ist sehr deutlich, aber gleichzeitig uneindeutig. Die Kinder in Israel und die Kinder in Gaza: Das sind alles Menschen. Und die Kinder in Kristófs Roman würden sich vielleicht gerne entmenschlichen, um den Krieg zu überstehen, aber sie schaffen es nicht. Am Ende brauchen alle Menschen ihre Mutter und ihre Brüder und ihre Großmutter.
Mehr zur Autorin
Sophie-Margarete Schuster geboren 2001 in Frankfurt am Main. Regie-Hospitanz an der Volksbühne Berlin (2020). Studium der Geschichts- und Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Studentische Mitarbeit in der Redaktion der geschichtswissenschaftlichen Informations- und Kommunikationsplattform "H-Soz-Kult". Ehrenamtliche Mithilfe in transnationalen Theaterprojekten der KULA Compagnie. 2023 erstmals journalistisch für "Theater der Zeit" aktiv und freiberuflich als Lektorin für den Verlag.