Ein neuer Blick aufs Gegenüber

Selen Kara inszeniert Fatma Aydemirs Roman "Dschinns" am Nationaltheater Mannheim. Anhand der Geschichte einer türkisch-kurdischen Familie in Deutschland erzählt sie von den emotionalen Konstellationen in der Familie, aber auch in unserer Gesellschaft.

Text: Theresa Eckert

Familienoberhaupt Hüseyin Yılmaz kam mit der ersten Gastarbeiter-Generation nach Deutschland, nun ist er nach jahrzehntelanger Schichtarbeit in Frührente gegangen. Er erfüllt sich den Traum einer Eigentumswohnung in Istanbul und kann das "kalte, herzlose Deutschland" endlich verlassen. Doch seine Frau und vier Kinder wird er dort nicht mehr empfangen können – Hüseyin stirbt in der alten neuen Heimat an einem Herzinfarkt. Fatma Aydemir erzählt in ihrem Roman "Dschinns" die Geschichte einer türkischstämmigen Familie Ende der 1990er Jahre.

Nach und nach findet sich Hüseyins verstreute Familie in Istanbul zusammen, der vermeintliche Lebensort ist zum Todesort geworden. Diese Verlusterfahrung wird für die Hinterbliebenen zum Katalysator, ihr lebenslanges Schweigen zu durchbrechen und lange gehütete Geheimnisse zu enthüllen. Denn alle haben ihren eigenen Dschinn im Gepäck, so ein sagenhaftes, aus Feuer erwachsenes Wesen, das in die Menschen fahren und sie verrückt machen kann. Selen Kara hat den Roman am Nationaltheater Mannheim inszeniert. "Wir alle haben unseren Dschinn, den wir finden, definieren und kennenlernen müssen", glaubt die Regisseurin.

Zusammen mit einer lebenden Autorin auf dieser Vertrauensbasis an der Bühnenfassung zu arbeiten und sich über die Dramaturgie auszutauschen, ist natürlich sehr besonders.

2020 inszenierte Kara bereits Aydemirs Debütroman "Ellbogen" in Mannheim, zwischen den beiden entwickelte sich über die Zusammenarbeit eine Freundschaft. Die Theateradaption von "Dschinns" nun hat Aydemir explizit Selen Kara anvertraut. Ein Glücksfall, wie Kara findet: "Zusammen mit einer lebenden Autorin auf dieser Vertrauensbasis an der Bühnenfassung zu arbeiten und sich über die Dramaturgie auszutauschen, ist natürlich sehr besonders." Nach einer sechswöchigen Probezeit, nur wenige Monate nach Erscheinung des Romans, wurde "Dschinns" am 8. Juli 2022 uraufgeführt.

In dieser komplexen Familiengeschichte taucht man Kapitel für Kapitel in die persönliche Welt von sechs verschiedenen Menschen ein. Doch wie gelingt der Transfer in die dramatische Form? Wie werden die Geschichten der einzelnen Charaktere auf die Bühne gebracht? Während der Roman zwischen erlebter Rede und Du-Perspektive wechselt, setzt die Bühnenfassung auf die Ich-Perspektive. Die Regisseurin verrät: "Was im Buch toll funktioniert, ist auf der Bühne nicht immer umsetzbar. Wir haben viel gekürzt und die Reihenfolge angepasst. Dennoch ist es meine bisher längste Inszenierung geworden, weil es mir wichtig war, die Geschichten der Figuren in ihrer Ganzheit abzubilden."

Regisseurin Selen Kara © Dome Darko

Im Laufe des Theaterabends wird jeder Dschinn aufgearbeitet. Die älteste Tochter Sevda bringt die emotionale Vernachlässigung durch die Eltern und das Gefangensein in ihrer unglücklichen Ehe zum Ausdruck. Der ebenso entfremdete Hakan entpuppt sich hinter seiner obercoolen, lässigen Fassade als Leidtragender der hohen Erwartungen des Vaters und veralteter patriarchalischer Strukturen. Die jüngeren Geschwister sind Feministin Peri, die als Erste in der Familie studiert, und Teenager Ümit, heimlich verliebt in einen Kumpel aus der Fußballmannschaft. Durch das Leben von Hüseyins Witwe Emine zieht sich eine Depression, die aber nie als solche benannt worden ist.

"Dschinns" © Maximilian Borchardt

"Dschinns" © Maximilian Borchardt

"Dschinns" © Maximilian Borchardt

"Dschinns" © Maximilian Borchardt

"Dschinns" © Maximilian Borchardt

"Dschinns" © Maximilian Borchardt

Diese familiären Konflikte prallen nun in der Wohnung des Vaters aufeinander. An einem Ort, an dem alle sein müssen, aber niemand sein will. Im Bühnenbild von Lydia Merkel liegt eine starke symbolische Kraft: Es zeigt ein spärlich möbliertes, fragil wirkendes Haus, auf das ein Dach hinunterfährt. Für Selen Kara ist dieses Haus "nicht nur das, wofür der Vater die ganze Zeit gearbeitet hat, sondern ein Konstrukt. So wie die Familie auch ein Konstrukt ist, das man versucht aufrechtzuerhalten." Die beweglichen Elemente des Hauses spiegeln wider, dass dieses Gebilde jederzeit wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen kann. 

Aus einem dichten Roman macht Kara einen ebenso dichten Theaterabend: Es geht um Konflikte zwischen Kulturen und Generationen, um restriktive Traditionen, Heimatlosigkeit, Alltagsrassismus, Homophobie und rechte Gewalt. Die Migrationserfahrung und das politische Klima der 1990er Jahre prägen die Geschichten der einzelnen Familienmitglieder und ihre Beziehungen. Für Selen Kara ist diese gesellschaftspolitische Tragweite entscheidend: "'Dschinns' ist sozusagen Aufklärungsarbeit über einen Teil deutscher Geschichte. Das sind keine Nischenthemen für eine kurdisch- oder türkischstämmige Zielgruppe: Hier erhält eine Generation rückblickend eine Stimme."

'Dschinns' ist sozusagen Aufklärungsarbeit über einen Teil deutscher Geschichte. Das sind keine Nischenthemen für eine kurdisch- oder türkischstämmige Zielgruppe: Hier erhält eine Generation rückblickend eine Stimme.

Um die Vielfalt der Gesellschaft zu repräsentieren, braucht es solche Themen auf deutschen Bühnen. Gerade die Arbeit an den Figuren hat Kara als sehr spannend erlebt: "Wir alle sind schon einem Hakan auf der Straße begegnet, mit seinem dicken Mercedes und dem Hang zu kriminellen Geschäften. Einer Emine als Frau an der Supermarktkasse würden wir vielleicht nicht einmal Beachtung schenken. Diese scheinbaren Stereotypen haben aber unglaublich viel zu sagen."

Ermahnen will sie mit ihrer Inszenierung nicht. Für sie ist "Dschinns" vielmehr eine berührende Familiengeschichte, aus der jede*r etwas mitnehmen kann. "Das Ziel meiner Arbeiten ist nicht, Menschen von etwas Bestimmtem zu überzeugen. Ich freue mich aber, wenn sich nach der Vorstellung für die Zuschauer*innen etwas öffnet und sie anders auf ihre Mitmenschen blicken."

Trailer

Mehr zur Autorin

Theresa Eckert, 28 Jahre alt, hat Germanistik und Literaturwissenschaft in Salzburg und München studiert. Sie arbeitet redaktionell in einer Dokumentarfilmproduktion in München und beschäftigt sich außerdem gerne mit Theater, Film und Kunst.

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