Einstürzende Altbauten
Datum
Text: Matthias Schmidt
Ihre Inszenierung von "Der Meister und Margarita", diesen rasanten, knapp zweistündigen Ritt durch Bulgakows Roman, hat Luise Voigt vor den Proben in vier "Trips" aufgeteilt. Um einen davon, und zwar ausgerechnet die Liebesgeschichte zwischen dem Meister und Margarita, später dann doch radikal zu kürzen. Nichts soll das teuflische Vergnügen auf der Bühne bremsen, alles soll "pure Energie versprühen. Ganz so, wie ich es beim Lesen des Buches erlebt habe", sagt Luise Voigt, "und da ist beispielsweise Voland wichtiger, der in dieser Inszenierung eine positive Figur ist, ein Befreier aus der Diktatur".
Trifft man Luise Voigt, geboren 1985 in Nordhausen, versteht man schnell: Diese Frau ist vom Theatervirus infiziert. Anders kann man es, auch nach allem, was gerade war, nicht nennen. Sie kann eben noch Sätze sagen, die von Margaritas Sehnsüchten und Gelüsten sprechen und enden mit "am liebsten würde ich fliegen wie Margarita", um im nächsten Augenblick zu konstatieren: "Stadttheater ist eine lokale Aufgabe". Angesteckt hat sie Armin Petras, von 1996 bis 1999 Oberspielleiter in ihrer Heimatstadt Nordhausen. "Der rasende Armin", wie Nikolaus Merck ihn seinerzeit in "Theater der Zeit" nannte, besetzt Luise Voigt, damals 14 Jahre alt und ohne elterliche Prägung für die Bühne, 1999 in "Nora oder Ein Puppenheim".
Als Petras mit der Inszenierung nach Kassel umzieht, geht Luise Voigt zum ersten Mal auf Gastspielreise. In den Kritiken wird der Abend teilweise heftig verrissen, aber die Schauspielanfängerin spürt (und staunt über) die Kraft, die von der Bühne ausgeht und beschließt: Ich werde Künstlerin. Kann man sich nicht ausdenken! Das Theater, erzählt Luise Voigt, ist damals für sie ein Sehnsuchts- und ein Freiheitsort. In einer Welt, in der die Eltern wie so viele im Osten ihre Jobs verloren hatten und die blühenden Landschaften – sagen wir – noch auf sich warten ließen. Wer so zum Theater kam, vergisst nicht, auch nicht, wenn er nach Stationen in Bonn, Oldenburg und Heidelberg demnächst in den großen Städten inszenieren wird, dass Theater mehr als Kunst ist. Manchmal sogar eine soziale Aufgabe.
Vielleicht deshalb kann man Luise Voigt, wann immer sie es schafft, im Zuschauerraum des Theaters sehen, an dem sie demnächst inszenieren wird. Sie will erkunden, sagt sie, für wen sie das macht, sich darauf einstellen, wen sie erreichen will, und zwar mit allen Sinnen. Mit dem Bulgakow in Weimar hat sie es geschafft. "Den hätte ich in einer Stadt im Westen sicher etwas anders inszeniert", sagt sie, "weil die Erinnerungskultur an Stalinismus und Diktatur dort eine andere ist."
In Weimar schauen viele bereits vor Beginn des Stücks einigermaßen sprachlos auf die Bühne, einen in die Horizontale gekippten Hinterhof, in dessen Zentrum, im Himmel, ein schwarz gekleideter, seltsam breitschultriger Mensch steht. Krähen kreisen über ihm, während ein Bulgakow-Brief – ein Hilferuf an die sowjetischen Funktionäre, ein Bericht seiner Verzweiflung über Zensur und Verbote – auf die Seitenkulissen projiziert wird. Mit diesem expressionistischen Bild, dieser optischen Täuschung einstürzender Altbauten auf der von Natascha von Steiger gefertigten Bühne, beginnt Voigts Version des gerne ins Epische gezogenen Stoffes. Sie entkernt ihn zu einem klugen, farbenfrohen, rasanten Geschichts-Comic.
Das ist mitreißendes, großes, junges Schauspiel!
Die Fenster öffnen sich, die Schriftsteller Berlioz und Lichodejew schauen heraus, von heftigem Schluckauf geplagt, und Volands Spiel mit der Welt beginnt. Es wird nahezu durchgehend in einer Slapstick-Ästhetik ablaufen, mit Effektgeräuschen aus der Trickfilmkiste, mit Musiken, die das Ensemble rhythmisch antreiben auf der Stelle zu rennen, auf dem Boden zu schwimmen oder – ganz ohne Hexenbesen – über Moskau zu fliegen. Wer abzugehen hat, springt schon mal wild aus dem Bild heraus. Krräng. Der Spaß am Spiel ist unübersehbar, die Verausgabung unüberhörbar. Voigts Ensemble tanzt und rennt und klettert – atemlos durch den Hof … Und Dascha Trautwein als Margarita fliegt – ohne den Boden zu verlassen – über die Stadt. Das ist mitreißendes, großes, junges Schauspiel!
"Wie schön, wenn es leicht und frei aussieht", sagt Luise Voigt, "dann haben sich die zehn Tage mit Butoh-Tanz-Training und einem nur im 'safe space' der geschlossenen Proben möglichen gemeinsamen 'Reinschmeißen' in den Stoff ja gelohnt. Selbst wenn wenig davon explizit erkennbar ist, über Bande spürt man es doch."
"Der Meister und Margarita" mit den Mitteln von "Tom und Jerry" (oder, ostdeutsch, "Nu Pogodi – Hase und Wolf")? Die Gespräche von Jeschua mit Pontius Pilatus als Monty-Python-Klamauk? Wo bleibt der heilige Ernst der sowjetischen Diktatur, wo die tragische Liebe von Margarita und dem Meister?
Luise Voigt schmunzelt die Frage weg: "Es kann nicht schaden, wenn Theater unterhaltsam ist. Äußerlich gilt für die Inszenierung: 'reduce to the max!'", sagt sie. Aber hinter diesem "more is more", wie sie ihr Herangehen an jede Inszenierung beschreibt, verbergen sich viele kleine, genau erarbeitete Denk-Angebote an die Zuschauer. Tatsächlich ist auch "Der Meister und Margarita" nur auf den ersten Blick wild oder gar improvisiert.
Der Abend ist sehr genau choreografiert und steckt voller Aktualität, voller Diskursthemen. Anbieten statt Vorführen, nennt Luise Voigt das. Mit viel Gefühl für kleine Breaks platziert sie zahlreiche knappe Andeutungen und Zeichen und Signale hinein in ihren bunten Hinterhof. Einmal flimmern kurz Kriegsbilder aus der Ukraine über die Fototapeten der Häuserwände. "Mit Kriegsbeginn", sagt sie, "war eine weitere Aktualisierung überhaupt nicht mehr nötig, weil jeder jetzt sowieso an Russland dachte." Zum Beispiel? Als Berlioz bestattet wird, nachdem er seinen Kopf durch eine Straßenbahn verlor, sind im Hintergrund Moskau-Bilder zu sehen. Das Bild wirkt, als werde ein Sarg aus dem Kreml getragen. Ein Schelm, wer dabei Böses denkt. Die wichtigen Sätze, sie ragen heraus aus dem fein durchdachten Klamauk und wirken um so heftiger: "Was täte das Gute, wenn das Böse nicht wäre", hören wir, auf ein Bühnen-Moskau schauend, das für einen kurzen Moment tatsächlich mit dem heutigen zu tun hat.
Der in der DDR gerühmte "Raum zwischen den Zeilen" heißt bei Luise Voigt einfach: Theater. Der leichte und streckenweise geradezu flapsig wirkende Umgang mit dem Romanstoff beschädigt ihn nicht, im Gegenteil, er wirkt wie eine Befreiung des Theaters aus der Diskursfalle, die auch in diesem Thema steckt. Denn absurderweise wird Bulgakow gerade sowohl in Russland als auch in der Ukraine zum zweiten Mal aussortiert, weil er den einen zu russlandkritisch, den anderen zu ukraineunfreundlich ist. Man könnte das auf der Bühne besprechen, es anklagen. Oder man spielt diesen Autor einfach. Wie heißt es im Roman, "die Feigheit ist die schrecklichste Sünde"?
Apropos. 2004 holt sich Luise Voigt den Westen ins Leben. Sie studiert Angewandte Theaterwissenschaften in Gießen. "Einerseits ein Kulturschock", sagt sie heute, "der Westen und die 68er ..." Andererseits wird Heiner Goebbels einer ihrer Lehrer und ermutigt sie, die Freiheiten von Klang und Ton und Musik im Theater mitzudenken. Und als eigene Form zu nutzen. "Mein zweiter Initiationsmoment", sagt sie, und schon die Erinnerung daran genügt für ein Strahlen im Gesicht. Mit einem Hörspiel über die Wende- und Nachwende-Erfahrungen von Menschen in ihrer Heimatstadt Nordhausen probiert sie es 2005 erstmals aus. Sie spricht mit ihnen über das Leben, das Ankommen in der neuen Zeit. Über die Freiheit, die sie genießen. Und die Sicherheiten, die sie vermissen. Auch darüber, dass viele nun mit zwei Enttäuschungen zu leben haben. Das Damals und das Heute im Niemandsland Nordhausen. 2012 aktualisiert sie das Hörspiel noch einmal, unter dem Titel "Weltall-Erde-Mensch". So hieß das Buch, das bis in die 1970er Jahre jeder DDR-Jugendliche zur Jugendweihe erhielt. Als Luise Voigt geboren wurde, schenkte die DDR den jungen Menschen längst ein anderes Buch, "Der Sozialismus – deine Welt". Da war, sozusagen, die Mauer gleich im Titel eingezogen. Luise war fünf Jahre alt, als sie fiel, aber die wiederholte Beschäftigung mit dem Land, das es nicht mehr gibt, zeigt, dass Prägungen lange nachwirken. Eine davon sind die starken Ostfrauen, auf die Luise Voigt im Gespräch mehrfach zurückkommt, die arbeiten, studieren, Kinder erziehen, auf eigenen Beinen stehen. Oder eben fliegen, wie Margarita. "Solche Frauen", sagt Luise Voigt, "hätte ich gerne mehr in der Literatur."
Natürlich ist es kein Zufall, dass sie, die bis heute beides macht, Theater und Hörspiel, 2018 ein Hörspiel nach Annie Ernaux‘ Roman "Die Jahre" geschrieben hat. Starke Frauen gibt es überall. Es wird 2020 beim 2Deutschen Hörbuchpreis" als "Bestes Hörspiel des Jahres" geehrt.
Auch in "Der Meister und Margarita" verdienen Musik und Ton einen genaueren Blick. Da wird beispielsweise "Wounds" performt, ein so bewegender Song, dass man ihn einfach zu Hause heraussuchen muss. Um herauszufinden, dass er von "Planningtorock" stammt, einer nicht-binären Person. SIER (das Pronom aus sie und er) beschäftigt sich in Musik und Performance mit fluiden Geschlechterrollen und -bildern. Die Inszenierung tut auch das, ohne es als Thema auszustellen. "Warum", fragt Luise Voigt – darauf angesprochen – zurück, das ist doch selbstverständlich, das muss ich dem Publikum nicht erklären. Was im Leben einfach da ist, ist es auf der Bühne ebenfalls. Ein weiteres Angebot. Eine Andeutung unter vielen.
Trug der Schriftsteller Besdomny nicht diese Perücke – war er vielleicht eine Frau? Welches Geschlecht hat der feminin wirkende Kater Behemoth (Fabian Hagen)? Sie gehe mit offenen Augen durch Berlin, sagt sie, zuletzt gerne auch in Drag Varietés, und lasse sich inspirieren. Und dann sei da auch noch ihr Team, beispielsweise Frederik Werth oder Friederike Bernhardt, die Musik schreiben. Stefan Bischoff, der Videos beisteuere, Maria Strauch für die Kostüme. Das leiseste Inszenierungsteam des Landes, wie sie manchmal höre, ergänzt Luise Voigt schmunzelnd. Nach dem Treffen mit ihr fällt es leicht, das zu glauben.
Ihr Name hat sich nach "Der Meister und Margarita" noch mehr herumgesprochen. Mit Blick auf die vielen namhaften Texte, die sie mit diesem leisen Team bereits inszeniert hat, unter anderem Wolfgang Borcherts "Draußen vor der Tür, George Orwells "1984", William Shakespeares "König Lear", Samuel Becketts "Warten auf Godot" lautet die Frage, was jetzt kommt. "Neue Häuser, neue Stücke." Luise Voigt ist nicht sicher, was schon verkündet werden darf. Dann vielleicht so: Dieser Tage findet die Spielzeit-Pressekonferenz am Schauspiel Düsseldorf statt. Dort wird bekannt gegeben, dass Luise Voigt in der kommenden Spielzeit Büchners "Woyzeck" inszenieren wird.
Mehr zum Autor
Matthias Schmidt, geboren 1965 an der Ostsee. Autor und Regisseur. Kritiker aus Leidenschaft und als solcher regelmäßig im Lande unterwegs für die Nachtkritik, MDR Kultur sowie verschiedene Tageszeitungen. Zahlreiche Dokumentationen für ARD, ZDF, arte, 3Sat, WDR und MDR. Adolf-Grimme-Preis 2004 für "Die Bühnenrepublik. Theater in der DDR" (gemeinsam mit Thomas Irmer, ZDF/3Sat). Aktuelle Produktionen 2023: "Unter Deutschen. Zwangsarbeit im Dritten Reich" (arte, ORF, Česká Televize, MDR) und "Lukas Rietzschel. Der Grenzgänger" (MDR).