Ein Inszenierungsfoto aus Die Jungfrau von Orleans

"Ich bin wenigstens auf der Suche"

Die polnische Regisseurin Ewelina Marciniak nimmt in ihrer Inszenierung „Die Jungfrau von Orléans materialreich den den Schiller`schen Mythos auseinander und hinterfragt ihn aus einer feministischen Perspektive.

Text: Eva Behrendt

Zum Schluss steht ein seltsam schönes Objekt in der weitläufigen Loungelandschaft mit knöcheltiefem Wasserbecken, die Mirek Kaczmarek für Ewelina Marciniaks Mannheimer Inszenierung entworfen hat. Es besteht aus aufeinandergetürmten, pastellfarbenen Stoffsäcken und erinnert entfernt an den berühmten Scheiterhaufen, auf dem historischen Quellen zufolge die französische Nationalikone Jeanne d’Arc im Alter von nicht einmal zwanzig Jahren auf Geheiß der Kirche, die sie Jahrhunderte später heiligsprechen sollte, als "Hexe" verbrannt wurde. Schon Friedrich Schiller wandelte die Hinrichtung ab, merkt die Johanna-Darstellerin Annemarie Brüntjen während der Aufführung kritisch an, und raubte seiner Heldin ein Lebensjahr, um sie siegreich auf dem Schlachtfeld gegen die Engländer sterben zu lassen. Auch Ewelina Marciniak entwirft eine eigene Schlussvision. Zu Füßen des symbolischen Mahnmals gibt eine ältere Schauspielerin (Ragna Pitoll) der jüngeren (Annemarie Brüntjen) ihre Lebenserfahrung weiter: "Wenn die Zeit für Veränderung gekommen ist, sei wachsam, geduldig und vor allem in Liebe mit Dir."

Ewelina Marciniak und ihre Dramaturgin Joanna Bednarczyk brechen Schillers Drama gleich von mehreren Seiten her auf. Da sind zum einen bestimmte Frauenbilder und damit verbundene Buzzwords, die auf der Bühne offen untersucht und diskutiert werden: Was ist eine "Jungfrau"? Muss sie beschützt werden, indem die Bauerstochter, wie von Johannas Vater geplant, möglichst schnell und früh verheiratet wird? Oder reicht zu ihrem Schutz, wie Brüntjens furchtlose Johanna findet, nicht ein – Helm? Was hat es mit ihrer "Unschuld" auf sich, ist auch sie Signum patriarchaler Heiratspolitik oder verleiht der freiwillige Verzicht auf Sex Superkräfte? Ist Jungfräulichkeit womöglich eine Alternative zum Modell der Mutterschaft, einer nicht minder überfrachteten Rolle, die Marciniak vor allem in der Figur der Königsmutter Isabeau (Sophie Arbeiter) diskutiert, die sich enttäuscht von ihrem Sohn Karl abwendet und auf die Seite der Engländer schlägt?

Ewelina Marciniak (c) Bartek Barczyk
Reflektierte Durchbrechung der vierten Wand

Diese Fragen verhandelt das Mannheimer Ensemble in einer so intelligenten wie unterhaltsamen Mischung aus geschmeidiger Theater- und Videokunst – auf einer hoch- und runterfahrenden halbtransparenten Leinwand zoomt eine Livekamera immer wieder an das Bühnengeschehen heran – und reflektierter Durchbrechung der vierten Wand. Dabei folgt die Inszenierung lose Schillers Plot: Sie beginnt mit einer Ohrfeige, die Vater D’Arc (Boris Koneczny) seiner Tochter im heimischen Domremy verpasst, um sie zur Besinnung auf ihre Rolle als zu verheiratende Frau zu bringen, springt an den Hof zu Karl VII. (Christoph Bornmüller), der mit seiner Geliebten Agnes Sorel (Vassilissa Reznikoff) dekadent dem Untergang entgegentanzt, und führt in die geschickt choreografierte Schlacht gegen die Engländer, für die mit simplem Klebeband eine Grenze gezogen wird.

Hier fallen die Spieler*innen erstmals kollektiv aus ihren Rollen, thematisieren im böse komischen Streit um stereotype Franzosen- und Engländerklischees, wer wie besetzt ist und wen repräsentiert. Da wirft Matthias Breitenbach (Talbot) der deutlich jüngeren Annemarie Brüntjen vor, dass sie aussieht "wie die Besetzung, die sich jeder Tattergreis vorstellt", und fragt, was sie denn überhaupt zu erzählen habe. Worauf die erstmal tief Luft holen muss, bevor sie zurückkeilt, dass er, der erfahrene Schauspieler, "einfach seine Schubladen" aufziehe: "Ich bin wenigstens auf der Suche!" Erstaunlicherweise wirkt das nicht aufgesetzt – ohne Spielfluss oder Glaubwürdigkeit zu stören, gleiten die Spieler*innen elegant aus ihren Figuren, nicht um privat zu werden, aber doch um aus ihrer Gegenwartsposition zu sprechen.

Die Jungfrau von Orleans (c) Christian Kleiner
Ich brauche immer sehr lange und gründliche Vorbereitungszeiten, in denen ich intensiv rund um die Textvorlage recherchiere.
Ewelina Marciniak
Recherche und Improvisation

Wenn Ewelina Marciniak sich mit historischen und kanonischen Texten beschäftigt, entstehen Inszenierungen, die vor dem Publikum immer neue Facetten und Informationen entfalten: historisch, kulturwissenschaftlich, feministisch. Was sonst oft ins Programmheft ausgelagert wird, geht bei ihr organisch im Bühnentext auf, in Überschreibungen, für die ihre Dramaturg*innen verantwortlich zeichnen. Annemarie Brüntjens Johanna reflektiert so nicht nur immer wieder ihre Figur, sondern stellt sie auch in eine historische Linie der Repräsentationen, spricht etwa über Maria Falconetti, die 1928 die Titelheldin in Carl-Theodor Dreyers Stummfilm "Die Passion der Johanna von Orleans" spielte, oder berichtet von der Instrumentalisierung Jeanne D’Arcs durch Kirche und Nation, Politiker wie Pétain und de Gaulle oder bis heute den Front National. Wie kommt es, dass solche Exkurse nicht didaktisch, sondern wie selbstverständlich in den Stoff eingewoben wirken?

Am Telefon beschreibt Ewelina Marciniak, wie sie sich kanonische Texte erabeitet und zeitgenössisch auflädt. Gerade ist sie Warschau, um sich nach Proben für "Iphigenia", einer Koproduktion zwischen den Salzburger Festspielen und dem Thalia Theater Hamburg, kurz zu sammeln. "Durch die vielen aufgestauten Projekte während der Pandemie droht mein Arbeitsrhythmus aus dem Takt zu geraten. Ich brauche immer sehr lange und gründliche Vorbereitungszeiten, in denen ich intensiv rund um die Textvorlage recherchiere. Im Fall der Jungfrau haben die Dramaturgin Joanna Bednarczyk und ich ein halbes Jahr viel gelesen und diskutiert, welche Stellen wir behalten und bearbeiten wollen, in welche Richtung unsere Interpretation gehen soll. Irgendwann haben wir auch die Mannheimer Dramaturgin Anna Günther miteinbezogen und mit ihr die Besetzung besprochen."

Heftig diskutiert

Die eigentliche Textfassung sei jedoch während der Proben in enger Zusammenarbeit mit dem Ensemble entstanden: "Die Schauspieler*innen haben über ausgewählten Szenen improvisiert, daraufhin hat Joanna sie neu geschrieben. Zum Beispiel wurde die Frage, wie wir die Kriegsszene auf die Bühne bringen, heftig diskutiert; Teile dieser Diskussion haben wir dann mit in die Inszenierung übernommen. Daran haben wir unheimlich lange gearbeitet. Das liegt natürlich auch an der Zweisprachigkeit: Die Improvisationen finden auf deutsch statt, Joanna schreibt polnisch, und das muss jeweils hin und her übersetzt werden." Überhaupt, erklärt Marciniak, die sehr gut Englisch, aber wenig Deutsch spricht, brauche sie bei den Proben in Deutschland eine Art "Sprachberater*in", und zwar "nicht nur zum Übersetzen, sondern um inhaltlich unsere Kommunikation zu unterstützen."

Als Ewelina Marciniak 2018 auf Einladung des Freiburger Intendanten Peter Carp mit einer ersten Arbeit an einem deutschen Theater debütierte (Shakespeares "Sommernachtstraum"), hatte sie sich in Polen bereits einen gewissen Namen gemacht. Nach dem Studium der Europa- und Theaterwissenschaften an der Jagiellonen-Universität sowie dem anschließenden Regiestudium an der staatlichen Theaterhochschule in Krakau inszenierte die 1984 geborene Regisseurin u.a. Texte von Elfriede Jelinek, Szczepan Twardoch, Roland Schimmelpfennig, aber auch Molière am Teatr Polski in Bielsko-Biała, am Teatr Juliusz Słowacki in Koszalin, im Teatr Współczesny in Szczecin und am Teatr Wybrzeże in Gdansk, wo sie nach wie vor Hausregisseurin ist.

Ich werde zwar immer noch viel eingeladen von verschiedenen polnischen Theatern, aber Stimmung und Atmosphäre im Land sind aus meiner Sicht nicht gerade hilfreich.
Ewelina Marciniak
Kritische Sicht auf die polnische Regierung

Einen regelrechten Skandal löste jedoch 2015 ihre Jelinek-Adaption "Der Tod und das Mädchen" (nach „Prinzessinnendramen“) am Teatr Polski in Wroclaw aus. Ob aufgrund von Gerüchten um pornografische Szenen im Vorfeld oder eines Plakatmotivs, das einen – allerdings von einer Frauenhand bedeckten – nackten weiblichen Unterleib zeigte: Radikale Mitglieder des „Rosenkranz-Kreuzzugs“ demonstrierten mit dem öffentlich geäußerten Einverständnis des nationalkonservativen Kulturministers Piotr Gliński für die Absetzung der Inszenierung. Zwar fand die Premiere dennoch statt. Doch der Skandal befeuerte den Kulturkrieg zwischen PiS-Regierung, Medien und Theater. Im selben Jahr wurde Marciniak mit dem renommierten polnischen Kulturpreis Paszport Polityki ausgezeichnet, doch das ändert nichts daran, dass, wie sie sagt, die polnische Kulturpolitik der PiS-Partei "meine Arbeit nicht schätzt. Ich werde zwar immer noch viel eingeladen von verschiedenen polnischen Theatern, aber Stimmung und Atmosphäre im Land sind aus meiner Sicht nicht gerade hilfreich." Auch im Verhältnis zum russischen Angriffskrieg bleibt ihre Sicht auf die polnische Regierung kritisch. Die ungeheure Hilfsbereitschaft der Polen und Polinnen gehe vor allem auf private Initiativen zurück, während der Staat sich darauf konzentriere, an seinen Grenzen Menschen in gute und schlechte Geflüchtete einzuteilen.

 

Die Jungfrau von Orleans (c) Christian Kleiner
Entschieden säkular

In Deutschland war Marciniak, die an verschiedenen Häusern stets mit ihrem Kernteam zusammenarbeitet, schnell sehr erfolgreich: Ihre Adaption von Szczepan Twardochs "Der Boxer" am Hamburger Thalia Theater wurde 2020 mit dem Theaterpreis "Der Faust" ausgezeichnet, ihre "Jungfrau von Orleans" 2022 nicht nur zum Münchner Festival Radikal Jung, sondern auch zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Was unterscheidet das polnische und das deutsche Theater? "Beide Theater können sehr viel voneinander lernen", glaubt Marciniak. "Ganz allgemein gesprochen, könnte das deutsche Theater ruhig ein bisschen flexibler werden und das polnische etwas zuverlässiger. Mein Traum ist ja eine Inszenierung mit deutschen und polnischen Schauspieler*innen zusammen. Denn ich schätze meine Arbeit mit meinen polnischen Dramaturg*innen und denen der deutschen Theater wirklich sehr, das ergänzt sich hervorragend. Überhaupt verdanke ich meinem Team sehr viel."

Ganz allgemein gesprochen, könnte das deutsche Theater ruhig ein bisschen flexibler werden und das polnische etwas zuverlässiger.
Ewelina Marciniak

Vor dem Hintergrund des Skandals in Wroclaw wirkt Ewelina Marciniaks "Jungfrau" noch mal entschiedener säkular. Auf Philipp von Burgund, der Johanna als "Engel" bezeichnet, wurde verzichtet, der Erzbischof von Reims, der sie auf dem Scheiterhaufen hinrichtet, ist gestrichen. Weder christliche noch nationale Symbole prägen die Bühne, dafür übersetzen Marciniak und ihre Choreografin Dominika Knapik die schlagartige Verliebtheit von Johanna und Feind Lionel (László Branko Breiding) in einen Tanz aus Posen der Abwehr und Anziehung: halb nackt, aber nicht pornografisch, voller Begehren, aber noch mehr Distanz. Am Hof erzählt Johanna von keiner Marienerscheinung, sondern von "etwas Äußerem", das sie beauftragt habe, für ihr Land in den Krieg zu ziehen. Vor allem aber treibe sie, und das klingt nun ganz und gar entwaffnend, "der Glaube an mich selbst".

Mehr zur Autorin

Eva Behrendt

Eva Behrendt, geboren 1973 in Waiblingen, studierte Geschichte, Germanistik und Theaterwissenschaft in Mainz, Dijon und Berlin. Seit 2001 Redakteurin bei "Theater heute", außerdem freie Kritikerin für taz, Die Zeit etc. sowie Gastdozentin am Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin. Sie ist Mitglied der Jury des Berliner Theatertreffens.