Leiden an der Endlichkeit

Rieke Süßkow inszeniert am Wiener Burgtheater Peter Handkes "Zwiegespräch" als radikales Zusammenprallen von Alt und Jung.

Autor: Jens Fischer

Radikal alt ist der Autor. Zu seinem 80. Geburtstag veröffentlichte der österreichische Literaturnobelpreisträger Peter Handke ein schmales Bändchen mit dem Titel "Zwiegespräch". Die Wehmut über eigene Fehler und all das Unerledigte des Lebens wird überwuchert von Reflexionen über die Kunst eines Gemeinschaft stiftenden, Menschen und Zeiten verbindenden Erzählens. Handke thematisiert die Schuld der Großväter in den Kriegen, das Altern, den Verfall und die Frage, was von einem bleibt im Gedächtnis der Welt.

Die Regisseurin Rieke Süßkow wurde 1990 geboren. Am Wiener Burgtheater hat sie nun Handkes "Zwiegespräch" inszeniert. "Einen Nachmittag habe ich zu Hause bei Peter Handke in der Nähe von Paris verbracht. Wir waren spazieren, er ließ viel von sich und seiner Persönlichkeit durchblicken", erzählt sie. "Die Gespräche waren aber auch umworren und verworren, kryptisch, träumerisch wie seine Texte, aber immer wieder war ein Funke Leidenschaft oder Wut zu spüren und eine Liebe für die Welt."

Ich habe eine sehr große Emotion gesehen, die hinter den Zeilen hervorlugt
Regisseurin Rieke Süßkow (c) Oliver Brosmann

Der Ansatz ihrer Inszenierung ist ziemlich radikal. Kein ehrfürchtiger Uraufführungs-Kodex: Süßkow entwickelt aus der Vorlage vielmehr einen eigenen Kosmos, in sich geschlossen wie eine Traumblase und farbstark mit Licht ausgemalt. Aus Handkes altersweise grummeliger Re-Poetisierung der Welt schafft die Theatermacherin eine inhaltlich aufgeladene Situation. "Ich habe eine sehr große Emotion gesehen, die hinter den Zeilen hervorlugt: die geradezu existenzielle Angst, keine Stimme mehr zu haben, zu verschwinden, zu sterben. Peter Handke hat ja sehr lange Sprache in die Welt gesetzt, und obwohl er immer gesagt hat, keinen politischen Einfluss nehmen zu wollen, das trotzdem ja wissentlich getan. Mit 80 Jahren merkt er vielleicht, dass er immer mehr an Einfluss verliert, nicht mehr gehört wird. Diese große Tragik hat mich gereizt, die fand ich sehr theatral. Und das ist ja auch ein gesellschaftliches Problem, dass Menschen ab einem gewissen Alter immer weniger Teil der Gesellschaft sind", erklärt Süßkow und verweist darauf, dass der Text mit An- und Abwesenheit spiele wie der Film "Himmel über Berlin", dessen Drehbuch Handke zum großen Teil geschrieben hat. Darin laufen Otto Sander und Bruno Ganz, denen das "Zwiegespräch" gewidmet ist, "unsichtbar durch die Stadt, beschreiben die Dinge, die sie wahrnehmen, können sich aber nicht einschreiben in die Welt."

Um die Themen erfahrbar zu machen, braucht es für die Übersetzung auf die Bühne eine zusätzliche Narration.

Der neue Text fordert die Regie heraus. "Es steckt kein Ort, keine Situation darin. Um die Themen nicht nur hör-, auch erfahrbar zu machen, braucht es für die Übersetzung auf die Bühne also eine zusätzliche Narration", so die Regisseurin. Süßkow versetzt das Spiel in ein stilisiertes Seniorenheim-Gefängnis und verteilt die Texte auf drei Altstars des Burgtheaters und zwei junge Ensemblemitglieder. Sie erzählt einen Generationenkonflikt. Die Alten werden hereingefahren, in Unterwäsche auf Stühlen geparkt und zwischen Topfpflanzen platziert. Was an Routinen einstigen Alltags noch möglich ist, praktizieren sie mühsam und still in aller Trostlosigkeit: Zähneputzen, Kämmen, Anziehen und eben Schwadronieren. Gedanken kreiseln, als würden sie täglich mit den gleichen Worten die Zeit totschlagen.
 

Eine Faltwand trennt die Jungen von den Alten und drängt diese immer weiter an die Rampe, den Abgrund, während sich der Bereich für die Enkelgeneration zunehmend weitet. Sie spielen eine grausame Variation von "Reise nach Jerusalem": Wer von den Senioren keinen Stuhlplatz ergattert, muss seine Habseligkeiten abgeben, wird aus der Szene geschmissen und kommt eingeäschert in einer Urne zurück. Widerstandslos treten die Alten allerdings nicht ab. "Ihre Stimmen kommen ja schon halb aus dem Grab. Ich habe mir immer vorgestellt, da stehe die junge Generation mit Grabdeckeln und will sie auf die Alten senken, die sich aber wehren, indem sie immer noch was und noch was sagen und sich dabei um Kopf und Kragen schwadronieren auf ihrer eigenen Beerdigungsfeier – wie Scheherazade, die immer weiter redet, um nicht getötet zu werden", erklärt Süßkow.

Den Jüngeren haben auf der Bühne die alten weißen Männer, hat die Vergangenheit nichts mehr zu sagen, sie werfen höhnisch Stichworte ein und arbeiten das "Großvatertum" nach und nach einfach weg. "Handke setzt sich im Text mit seinem Großvater auseinander, ich mich aus der Perspektive seiner Enkelgeneration mit ihm. Und das ist immer eine Mischung aus Nostalgisierung und Abrechnung. Was wäre, wenn Handkes Generation vor 50 Jahren statt die RAF ein eigenständiges Tribunal gegründet hätte, um Väter und Großväter für den Faschismus, Kapitalismus, Umgang mit Ressourcenknappheit, die Klimakrise und so weiter zu bestrafen? Den Generationenkonflikt verstehe ich als Werte- und Ankreidekonflikt, da fragt die Enkelgeneration ihre Großelterngeneration: Was habt ihr mit euch machen lassen oder selbst gemacht? Warum habt ihr der Welt den Weg geebnet, in der ich jetzt leben muss?"

 

Trotzdem bedeutet all das bei Süßkow wohl nicht, Handke habe sich überlebt, sondern vielleicht eher: Der Generationenvertrag beruht auf einer Illusion, ist nicht in gegenseitigem Einvernehmen geschlossen, sondern eine Zwangsmaßnahme für den sozialen Frieden. Ein Dienstleistungsverhältnis auf dem Boden des Sozialdarwinismus. Die Jugend will die Alten als Kostenfaktor möglichst schnell loswerden. "Aber beide Generation sind in ihrem Trauma und ihrer Tragik durchaus auch Identifikationsfiguren. Die Alten müssen sich für die Welt verantworten, so wie sie ist, die Jungen für die Methoden ihrer Abrechnung. Darum geht es ja, dass unsere Ahnen uns etwas mitgeben, einen Fluch, den wir abschütteln wollen. Wir merken aber, dass wir da nicht rauskommen. Das ist ein Teufelskreis, in dem keiner besser ist als der andere", so Süßkow.

Nachdem die Heimbewohner schließlich entsorgt sind, können die Jungen mit der Welt nichts anfangen, ihre Körper ruckeln ein wenig zu elektronischer Musik und wirken paralysiert. Kein Versprechen auf eine bessere Zukunft. Aber ein Abend, der wohl bei allen das ungute Gefühl hinterlässt, Süßkows Sicht könnte allzu viel mit unserer Wirklichkeit zu tun haben.

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Jens Fischer (c) Michael Bahlo

Jens Fischer studierte Journalistik, Theater-/Filmwissenschaft und Germanistik in Dortmund und Bochum, volontierte beim WDR und arbeitet als freier Kulturjournalist für die "taz", "Die Deutsche Bühne", "Theater der Zeit", "nachtkritik" etc. Er lebt in Bremen.

Das Radikal jung Festival 2023 wird in Kooperation mit der Jungen Bühne unter der Leitung von Anne Fritsch von jungen Autor*innen und Kulturjournalist*innen begleitet! Täglich erscheinen neue Artikel auf unserem Blog. Blickt in Interviews, Vorberichten, Festivaltagebüchern oder Videos hinter die Kulissen des Festivals!