"Man fürchtet sich, vor dem, was man ist: Natur."
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Interview: Julia Decker
Anm.d.Red.: Das Interview wurde im Sommer 2021 zur Veröffentlichung des neuen Spielzeithefts VOLKSMUND geführt.
Ihr inszeniert zwei völlig unterschiedliche Stücke in dieser Spielzeit, bei beiden spielt aber das Verhältnis von Mensch und Natur eine Rolle. Worum geht es in deinem Stück, Florian?
Florian Schaumberger: Mit Naturdarstellungen möchte ich beim Publikum unterschiedliche Assoziationen hervorrufen. Schon im Prolog zeige ich einen Sommersturm auf der Bühne, dafür arbeite ich mit Wind- und Nebelmaschinen. Und mit dem Geruch von Petrichor.
Wie riecht Petrichor?
Florian Schaumberger: Nach Regen auf trockener Erde. Petrichor heißt die chemische Verbindung, die dabei entsteht.
Und wovon handelt dein Stück?
Florian Schaumberger: Mit Hilfe von vorproduzierten Videosequenzen folgt man einem jungen Menschen in den Supermarkt, dort macht er eine traumatische Erfahrung: Vor ihm an der Kasse bricht ein alter Mann zusammen und stirbt. In der Folge entsteht bei ihm eine Faszination für den Übergang des Körpers in einen anderen Zustand. Er begibt sich auf die Suche nach dem Ende des Lebendigen und ist fasziniert von den chemischen Prozessen, die dem Tod folgen: Kompostieren, Verbrennen, in Energie verwandeln.
Was macht den Vorgang des Vergehens so reizvoll?
Florian Schaumberger: Während der Pandemie wurden das Alter und der Tod zu großen Themen, die Angst vor dem Sterben war allgegenwertig. Man fürchtet sich – ausgelöst durch das Virus – vor dem, was man ist: Natur.
Man fürchtet sich, vor dem, was man ist: Natur.
Der Tod als endgültiger Sieg der Natur: Ist das auch etwas, das dich interessiert, Jessica?
Jessica Glause: Ja, denn wir verdrängen den Zyklus der Natur. Mit der Geburt schenke ich den Tod. Oder: Bekomme ihn geschenkt. Ich kann nichts dagegen tun. Es ist schmerzhaft, einen Körper zu haben, der altert. Oder zu sehen, wie die Menschen, die man liebt, altern und krank werden.
Geht es darum auch in deinem Stück?
Jessica Glause: Nein, sondern kurz gesagt um Tiere. Ich habe Interviews zum Thema Schlachten geführt und mit Metzgern, Fleischhändlern, Tierärzten gesprochen. Aber auch mit Vegetariern und Veganern, einer Ziegenbäuerin und einer Genussgemeinschaft, die sich für biologisches Bauerntum einsetzt. Diese unterschiedlichen Stimmen haben meinen Blick auf dieses Thema geöffnet.
Wird es ein blutiges Stück?
Jessica Glause: Gar nicht. Ich zeige sechs Tiere: ein Hund, eine Katze und ein Schwein, also Tiere, die Fleisch fressen. Und eine Kuh, eine Ziege und ein Pferd, vegetarische Tiere. Dargestellt werden sie als Hybridwesen, so dass man merkt: Das sind Menschentiere.
Möchtest du mit dem Stück auf die Bedingungen in der Lebensmittelindustrie aufmerksam machen?
Jessica Glause: Ich habe überhaupt keine Lust, die Moralkeule auszupacken und zu sagen: Ihr seid die Bösen, man darf Tiere so nicht behandeln. Der Schlachthof gegenüber vom neuen Volkstheater stand immer wieder in der Debatte, weil es da stinkt. Die Anwohner sind genervt, dass man das Töten und Verarbeiten der Tiere riecht. Aber immerhin findet das Schlachten im Herzen der Stadt statt, man wird noch damit konfrontiert. Eigentlich sind meine Themen aber Verdrängung, Trauer und Trauerbewältigung.
Wie das?
Jessica Glause: Meine These lautet: Natur existiert nicht mehr. Und das möchte ich betrauern. Unser Handeln – auch die Ernährung, die uns am Leben hält – trägt zum Verschwinden der Natur bei. Dabei ist Fleisch zu essen nicht per se schlecht. Und veganes oder vegetarisches Leben nicht automatisch gut. Selbst der Anbau von Erbsen, die Fleisch ersetzen sollen, zerstört ja Natur. Nichts davon führt dazu, dass wir sie je wieder in einem ursprünglichen Zustand erleben können.
Egal, was wir tun, wir machen uns immer schuldig: Das ist ja ein fast biblisches Thema.
Jessica Glause: Aber es geht mir nicht um Schuld, sondern um Verantwortung. Ich weiß: Was ich auch esse, es führt immer zum Tod. Das versuche ich wertfrei zu betrachten.
Wie handhabst du das in deinem Alltag?
Jessica Glause: Ich habe 18 Jahre lang vegetarisch gelebt. Dann wurden meine Blutwerte schlecht und die Ärzte meinten, ich solle mal wieder Leber essen. Ausgerechnet! Jetzt esse ich ausgewähltes Fleisch. Damit bin ich aber auch nicht raus aus der Verantwortung. Es besteht die Möglichkeit, weniger Fleisch zu konsumieren, und darauf zu achten, dass die Tiere artgerecht aufgezogen wurden. Doch das ist eine Klassenfrage. Ich kann mir das leisten. Eine Familie mit drei Kindern, die von Hartz IV lebt, wird sich eher schwer tun, Fleisch aus einer Hausschlachtung zu beziehen.
Florian, ist das auch ein Thema für dich: Ernährung in Bezug auf den Umgang mit Natur?
Florian Schaumberger: Eher weniger. Aber ich achte darauf, möglichst wenig Fleisch zu essen.
Wann hast du deinen Umgang mit der Natur zuletzt im Alltag reflektiert?
Florian Schaumberger: Während der Corona-Pandemie zeigte sich: Die Zivilisation hatte die Natur erfolgreich gezähmt und verdrängt. Doch plötzlich wurde die Natur der einzige Zufluchtsort. Außer ausgedehnten Spaziergängen gab es kaum eine Beschäftigung. Aus Angst vor einem unangenehmen Teil der Natur, also dem Virus, suchten die Leute Erlösung in den schönen Teilen der Natur. Auf dem Stand-Up-Paddle-Board auf dem See zum Beispiel. Diese Ambivalenz fand ich sehr interessant.
Kann man sich eigentlich der Natur aussetzen und nichts empfinden, sei es Freude, Entspannung oder Angst?
Florian Schaumberger: Die Natur dient uns als Trigger für Assoziationen. Ich bekomme automatisch einen sinnlichen Eindruck, der trägt meine Gedanken fort. Gerade, wenn ich mit meinem Hund spazieren gehe, passiert mir das oft. Und genau das möchte ich ins Theater übersetzen.
Welche Rolle spielt für dich Sinnlichkeit im Umgang mit der Natur, Jessica?
Jessica Glause: Mir kommt in diesem Zusammenhang eher der Begriff der Erhabenheit in den Sinn. Dieses Gefühl kenne ich aus den Bergen, wenn ich mich Naturgewalten ausgeliefert fühle. Die Erfahrung schutzlos zu sein, bei Gewitter zum Beispiel, führt zu elementaren Fragen: Soll ich mich jetzt auf den Boden legen? Ins Zelt gehen? Oder lieber nicht?
Florian Schaumberger: Für mich ist es viel interessanter, die Natur in mir selbst zu suchen und zu reflektieren.
Wie findest du die Natur in dir?
Florian Schaumberger: Ich wünsche mir eine Bewusstseinserweiterung, ein tiefes Verständnis dafür, wie Dinge zusammenhängen, sich verknüpfen. Dafür arbeite ich mit Ayahuasca, einem Sud aus einer psychedelisch wirkenden Pflanze. Mit diesem Mittel aus der Natur möchte ich mich in einen Bewusstseinszustand bringen, der mich wiederum Natur erfahren lässt.
Jessica Glause: Das klingt spannend, aber auch hier sehe ich den Menschen, der sich egozentrisch in den Mittelpunkt rückt und sich Sachen einverleibt, konsumiert. Das will ich weder als gut noch als schlecht werten, doch überall wird die Vorherrschaft des Menschen deutlich. Wir können die Welt rational durchdringen und deswegen dürfen wir uns vermeintlich die Natur unterwerfen und auch Tiere essen.
Das Gegenargument lautet: Gerade weil der Mensch über Intelligenz verfügt, ist er das einzige Raubtier, das es schaffen kann zu überleben, ohne andere Tiere zu essen.
Jessica Glause: Aber selbst veganes Essen wird auf Böden angebaut, die durchdrungen sind von Kleinstlebewesen, die dann bei der Ernte sterben. Es müssen einfach zu viele Menschen auf diesem Planeten ernährt werden. Bisher wurde noch keine Energiequelle gefunden, die es uns ermöglicht, Lebensmittel ohne Ausbeutung zu erzeugen. Selbst dann nicht, wenn man Burger aus Erbsenprotein herstellt. Das zu erkennen, ist schmerzhaft.
Wir pflegen unsere Gärten, lieben unsere Katzen, vergiften die Böden und essen misshandelte Schweine. Wie geht das zusammen?
Jessica Glause: Gar nicht. Unser liebender und zu gleich ausbeutender Umgang mit der Natur zeigt eine Ambivalenz. Damit konfrontiert zu sein, ist das, was Menschen am schwersten aushalten. Man schickt die Kinder nicht in den Schlachthof, damit sie sehen, wie Tiere geschlachtet werden, weil man sie vor Gefühlen wie Wut und Trauer bewahren möchte. Umso wichtiger ist es also, wenn sich das Theater damit beschäftigt.
Wird es im Theater in Zukunft mehr um die menschgemachte Klimakrise gehen?
Florian Schaumberger: Ich hoffe es. Wenn man sowieso nach anderen Erzählformen sucht, weil zum Beispiel die Theaterhäuser lange nicht so spielen konnten wie vor der Pandemie, kann man sich auch nach anderen Inhalten umschauen.
Du arbeitest auf der Bühne mit digitalen Medien. Ist das für dich ein Gegensatz zum Natürlichen?
Florian Schaumberger: Nein, sondern vielmehr eine Weiterentwicklung. Gerade am Theater wird alles Digitale meist separiert betrachtet oder nur nach seiner Notwendigkeit untersucht: Brauche ich noch etwas Digitales, damit ich etwas erzählen kann, was ich anders nicht vermitteln kann? Man muss aber den symbiotischen Zusammenhang erkennen – so wie auch beim Blick auf den Menschen und die Natur. Mir geht es um ein Akzeptieren und Annehmen eines Raums, in dem beides existiert: Natur und Mensch, Digitales und Analoges.