"Manches mag als Spinnerei wirken, aber es sind alles Fakten."
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Interview: Julia Rothhaas
Für das Münchner Volkstheater hast du "Unsterblichkeit oder: Die letzten sieben Worte Emilia Galottis" geschrieben. Kannst du die ursprüngliche Handlung von Gotthold Ephraim Lessing kurz zusammenfassen für alle, die diese Geschichte gerade nicht mehr im Kopfhaben?
ARNA ALEY: Emilia Galotti ist mit einem Grafen verlobt, aber auch der Prinz von Guastalla hat sich in die junge Frau verguckt. Weil der Tag der Hochzeit bereits gekommen ist, organisiert er, dass Emilias Verlobter entführt wird. Der Prinz stellt ihr daraufhin in der Kirche nach und flüstert ihr Liebesbekundungen ins Ohr. Das bringt Emilia völlig aus dem Konzept. Nicht nur, weil sie von dem Prinzen als Objekt angesehen wird; sie bemerkt auch, dass seine Worte etwas in ihr angerührt haben. Ihr innerer Zwist wird zur Haupttragödie.
Und um was geht es in deinem Stück?
Eigentlich um genau das, was im Titel steht, also um die letzten sieben Worte der Emilia Galotti: "Eine Rose gebrochen, ehe der Sturm sie entblättert".
Für was stehen diese sieben Worte?
Lessing verhandelt den Mord an Emilia durch ihren Vater, der ihre Tugend aufrechterhalten will. Ihren Tod fordert sie allerdings auch selbst, um ihre Ehre als Frau zu wahren – obwohl sie überhaupt nichts falsch gemacht hat. Ein "Ehrenmord" in einem deutschen bürgerlichen Trauerspiel hat mich jedoch nicht überzeugt. In meiner Version weigert sich Nailia, eine junge Krim-Tatarin, daher, die Rolle der Emilia zu spielen, nicht nur weil Lessing den Charakter der jungen Frau simplifiziert hatte, sondern auch, weil er den römischen Virginia-Stoff, den er in seinem Stück verwendete, entpolitisierte. Ich habe die Handlung umgedreht und ließ Nailia den Prinzen in sein Schloss entführen. Das benutzt sie dann als Location für den Livestream eines schamanischen Rituals, mit dem sie eine "Schamanen-Revolution" via TikTok auslösen will.
Schamanen? Das klingt ziemlich weit weg vom alten Lessing.
Die Halbinsel Krim gilt als mystischer Ort, dem eine spezielle Energie nachgesagt wird, und weil Schamanen wohl auch für Putin und seine Politik eine sehr große Rolle spielen, habe ich ein solches Ritual aufgegriffen. Denn bei meiner Recherche ist mir aufgefallen, dass die Uraufführung von "Emilia Galotti" 1772 stattfand. Im gleichen Jahr fiel Zarin Katharina II. das erste Mal auf der Krim ein, um das Khanat ins Russische Reich einzugliedern. Das wurde für mich das Bindeglied zur Gegenwart. Natürlich muss man nicht jedes Mal, wenn man ins Theater geht, an den Krieg in der Ukraine denken, aber weil sich gerade alles so zuspitzt, war es mir wichtig, die von Lessing entfernte politische Ebene wieder in das Stück zu packen. Dank dieses Datums hat sich alles gut zusammengefügt.
Im Zuge des Schreibprozesses habe ich angefangen, Lessing richtig zu lieben – im Kontext seiner Zeit.
Ist in deiner Version noch etwas von der ursprünglichen "Emilia" übrig?
Ich wollte unbedingt Lessings Sprache übernehmen, der Original-Text ist wirklich wunderbar. Also habe ich Zitate von ihm als Stilmittel eingebaut, damit die Figuren in ihr ursprüngliches "Zuhause", in Lessings Sprache, flüchten können. Im Zuge des Schreibprozesses habe ich angefangen, Lessing richtig zu lieben – im Kontext seiner Zeit.
Du bist bekannt dafür, "Dokumentar-Theaterstücke" zu schreiben. Was genau ist damit gemeint?
Das alles wahr ist. Ich habe unglaublich viel recherchiert, dafür ging die meiste Zeit drauf. Erst im Anschluss habe ich das Gelesene dramaturgisch verarbeitet. Manches darin mag als Spinnerei wirken, aber es sind alles Fakten.
Wie kam es dazu, dass du dir dieses Stück vorgenommen hast?
Ich habe Philipp Arnold, den Hausregisseur des Münchner Volkstheaters, 2023 kennengelernt, als ich den Text "Das ewig Menschliche zieht uns hinab" für seine Inszenierung von "Fabian oder: Der Gang vor die Hunde" geschrieben habe. Die Zusammenarbeit mit ihm und der Dramaturgin Hannah Mey war wunderbar, das wollten wir wiederholen. Der Vorschlag zu "Emilia Galotti" kam von Hannah.
Du lebst in Berlin. Wie lief die Zusammenarbeit ab?
Wir haben uns nur einmal in Berlin getroffen, nachdem ich die erste Version des Stücks geschrieben hatte. Aber ich habe totales Vertrauen in Philipps Arbeit. Ich kenne kaum jemanden, der so genau mit Texten arbeitet und so nah an meinem Verständnis bleibt.
Allein der Duft des Theater-Cafés – die Erwachsenen tranken vor der Vorstellung Kaffee mit Cognac – war für mich Erotik pur!
Du hast Violoncello und Szenisches Schreiben studiert. Wie bist du zum Theater gekommen?
Ich bin in Litauen aufgewachsen, in einer Stadt namens Panevėžys. Dort gab es ein Theater, für dessen Inszenierungen Menschen aus der gesamten Sowjetunion anreisten. Es wurde sogar ein vierzehnstöckiges Hotel gebaut, um die ganzen Theaterbesucher unterzubringen – das damals einzige Hochhaus der Stadt. Meine Mutter leitete das Kulturamt, das in einem Anbau des Theaters untergebracht war. Also hatte ich immer Zugang und konnte mir jeden Abend eine Vorstellung ansehen. Ich war anfangs gerade mal zehn Jahre alt und habe nicht alles verstanden, was ich dort gesehen und gehört habe, trotzdem hat es meine Sinne fürs Theater geschärft. Allein der Duft des Theater-Cafés – die Erwachsenen tranken vor der Vorstellung Kaffee mit Cognac – war für mich Erotik pur! Das Theater war also schon immer ein sehr großer Teil meines Lebens.
Und dennoch hast du dich zunächst für einen anderen beruflichen Weg entschieden.
Aufgrund meiner übergroßen Liebe fürs Theater habe ich mich lange nicht getraut, dort Fuß zu fassen. Also entschied ich mich für Violoncello. Nachdem ich nach Deutschland auswanderte, entdeckte ich im Verzeichnis der Universität der Künste in Berlin den Studiengang "Szenisches Schreiben". Da dachte ich: "Das ist doch genau das, was ich mein Leben lang eigentlich studieren wollte!" Dass ich unter den vielen Bewerbern schließlich einen Platz bekam, grenzte für mich an ein Wunder.
Heute schreibst du nicht nur fürs Theater, sondern führst auch Regie für Filmprojekte, arbeitest als freischaffende Kunstkuratorin, warst Stadtschreiberin in Chemnitz. Wird dir schnell langweilig, weil du so oft hin und herwechselst?
Nein, ich langweile mich nie. Ich bin eine passionierte Nichtstuerin. Im Grunde wehre ich mich gegen so etwas wie eine Karriere, denn ich möchte nicht den Druck spüren, ständig mehr produzieren zu müssen. Doch wenn ein Auftrag bei mir landet, denke ich meist: Jetzt will die Welt, dass ich etwas zu erledigen habe. Also lege ich los.
"Unsterblichkeit oder: Die letzten sieben Worte Emilia Galottis" von Arna Aley in der Regie von Philipp Arnold ist ab dem 15. November 2024 im Münchner Volkstheater zu sehen.