Nicht nur tote alte weiße Männer
Datum
Interview: Antonia Ruhl
Glossy Pain gibt es seit 2020. Das Kollektiv wurde gegründet von Ihnen beiden sowie der Dramaturgin Angelika Schmidt. Sie alle haben vorher an der Schaubühne gearbeitet – als Regieassistentin (Stoll), als Schauspielerin (Redfern) und als dramaturgische Mitarbeiterin (Schmidt). Mit welchem Anspruch tritt Glossy Pain an das Theater heran?
Katharina Stoll: Uns ist es generell wichtig, im Team zu arbeiten und unsere einzelnen, inhaltlichen oder persönlichen Perspektiven mit einfließen zu lassen. Glossy Pain ist ein offener Begriff, der eher das kreative kollektive Arbeiten selbst meint als eine bestimmte, personell abgegrenzte Gruppe.
Isabelle Redfern: Wir üben uns beispielsweise darin, uns gegenseitig mit szenischen Fantasien zu bereichern und Entscheidungen anderer auch einfach mal hinzunehmen. Nicht alle entscheiden also alles mit, jede:r darf sich aber zu allem äußern. Ich würde Glossy Pain als eine Art freies Entwicklungskollektiv bezeichnen, das in unterschiedlichen personellen Konstellationen arbeitet. Aber es gibt auch kontinuierliche Zusammenarbeiten über mehrere Jahre hinweg.
Glossy Pain ist ein offener Begriff, der eher das kreative kollektive Arbeiten selbst meint als eine bestimmte, personell abgegrenzte Gruppe.
Das Ensemble in"Sistas!" besteht komplett aus nichtweißen Darsteller*innen, die Figuren erleben im Verlauf der Inszenierung allesamt rassistische Diskriminierung. Sie gehen damit unterschiedlich um und sind auch selbst keineswegs gefeit vor rassistischem oder klischeegeprägtem Denken. Ist "Sistas!" ein Debattenstück über die Debatte(n) selbst – ein öffentliches Sprechen darüber, wie in öffentlichen Räumen gesprochen wird?
Katharina Stoll: Sobald du den Diskurs thematisierst, verhandelst du natürlich den Diskurs als solchen. Die besondere Situation bei "Sistas!" ist aber, wie eine Figur einmal sagt: "Wir sind hier unter uns." Auf der Bühne steht ein gutbürgerliches Wohnzimmer, ein Berliner Zimmer mit Flügel und Sofa. Das schafft die Möglichkeit eines sehr privaten, intimen Diskurses – zuhause. Deshalb würde ich nicht sagen, dass das Stück unbedingt diesen äußeren Diskurs als solchen verhandelt.
Das Theater präsentiert sich also als der vielbeschworene Safe Space, der sich dem allzu Öffentlichen vielleicht auch mal entziehen will?
Katharina Stoll: Unser Versuch war es zu vermitteln, dass es Freude macht, sich offen mit aktuellen Diskursen auseinanderzusetzen. Diese Diskurse sind extrem wichtig, aber man darf dabei nicht das Gespräch vergessen – und im besten Fall auch nicht den Humor.
Unser Versuch war es zu vermitteln, dass es Freude macht, sich offen mit aktuellen Diskursen auseinanderzusetzen
Der Stücktitel bezieht sich weniger auf aktuelle politische Sisterhood als auf Anton Tschechows Drama "Drei Schwestern" aus dem Jahr 1901, das Sie ins Nach-Wende-Berlin 1994 verlegen. Die Figuren Tschechows kommen auch dann nicht aus ihrer Passivität heraus, wenn ihre gesamte Außenwelt zusammenbricht. Warum haben Sie diese Vorlage gewählt?
Isabelle Redfern: Ich spiele ja die an Olga angelehnte Figur Olivia und merke auf der Bühne immer wieder, wie offen und frei von Konsequenzen die Tschechowschen Gespräche in aller Regel sind. Also hatte ich das Gefühl, dass sich auf diese Art auch ganz andere Inhalte verhandeln lassen, sich eine Überschreibung also anbietet. In den 1990er Jahren haben wir die historische Situation, dass das US-Militär aus Berlin abzieht, dem der Vater unserer Schwestern angehörte. Bei Tschechow führt eine ähnliche Situation zu einem Identitäts- und Kulturverlust der Schwestern, die mit dem provinziellen, inselhaften Ort, an dem sie leben, nun gar nichts mehr anzufangen wissen. Die Schwestern projizieren ihre Sehnsüchte also auf das Militär und den fernen Sehnsuchtsort Moskau. Letzterer wird in unserem Stück zu Amerika.
Der Abend beinhaltet auch einen Metadiskurs über das Theater in Deutschland, das nichtweiße Darsteller:innen nur zögerlich und dann oft nur symbolisch und für bestimmte Quotenrollen berücksichtigt – Stichwort Tokenismus. Inwiefern sind Überschreibungen klassischer Werke für Sie auch als umgekehrte Aneignung interessant?
Katharina Stoll: Ich arbeite gerne mit Klassikervorlagen, mich interessieren aber auch viele lebendige Autor*innen – es müssen nicht nur tote alte weiße Männer sein.
Isabelle Redfern: Dass es so viele Klassikerüberschreibungen gibt, liegt auch daran, dass viele Theater einen solchen Kanon bedienen wollen. Und wenn ich als Regisseurin mit dem Stoff, der Umsetzung oder der Misogynie darin nichts anfangen kann und will, muss ich eben dekonstruieren, kommentieren, umschreiben. Also mache ich dieses oder jenes Stück, verweigere mich aber dem dort möglicherweise enthaltenen Sexismus.
Katharina Stoll: Im Gegensatz zur neueren Dramatik, die textlich in der Regel kaum verändert werden darf, liefern ältere Theatertexte ein Grundgerüst, innerhalb dessen man als Ensemble experimentieren kann. Das birgt eine große Freiheit – man kann diese Stücke frech und eigensinnig auseinandernehmen. Dabei arbeiten wir als Kollektiv Glossy Pain grundsätzlich textbasiert, wobei wir auch schon Theaterabende komplett selbst geschrieben haben.
Was zeichnet Ihre Arbeiten aus?
Katharina Stoll: Wir widmen uns insbesondere politischen, oft tagesaktuell aufgeladenen Themen, die für sich genommen alles andere als witzig sind, denen wir aber mit viel Humor begegnen. Und offenbar ist der Bedarf hier noch nicht gedeckt, wie man an der Resonanz für die "Sistas!"-Produktion sieht, deren Themen in der öffentlichen Debatte ja eigentlich schon zur Genüge verhandelt wurden – könnte man meinen.
Isabelle Redfern: Bei "Sistas!" war es uns wichtig, Mitspieler*innen zu finden, die unserer Art der humorvollen Auseinandersetzung ebenfalls etwas abgewinnen können und Spaß daran haben – eben weil wir uns auf der Bühne so sichtbar und verletzlich machen.
Mehr zur Autorin
Antonia Ruhl lebt in Berlin und studiert dort aktuell Theaterwissenschaft (M.A.). Daneben arbeitet sie u.a. für den Neofelis Verlag und als freie Autorin für Die Deutsche Bühne und junge bühne, für die sie vor allem über Schauspiel und Performance in Berlin und seiner ländlichen Umgebung berichtet.
Das Radikal jung Festival 2023 wird in Kooperation mit der Jungen Bühne unter der Leitung von Anne Fritsch von jungen Autor*innen und Kulturjournalist*innen begleitet! Täglich erscheinen neue Artikel auf unserem Blog. Blickt in Interviews, Vorberichten, Festivaltagebüchern oder Videos hinter die Kulissen des Festivals!