Sehnsuchtsort und Festivallaune
Datum
Text: Theresa Eckert
27. April 2023. Der Auftakt ist ein voller Erfolg! Theaterfans und Kulturbegeisterte strömen zum Radikal Jung-Festival ins Volkstheater, bereit für eine Nacht voller Kunst, Musik und Kultur. Das Publikum ist bunt, die Stimmung familiär und ausgelassen. Nach den langen Pandemie-Jahren herrscht eine besondere Energie – die Leute haben Lust! Hier ist niemand zufällig.
In der Auswahl des diesjährigen Programms wird ein gemeinsames Anliegen der jungen Regisseur:innen sichtbar: die Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Themen. Und es sind große Themen, die während dieser neun Festivaltage auf die Bühne kommen. Auch solche, die sich außerhalb der eigenen Bubble und Komfortzone befinden. Ein wesentlicher Teil der Inszenierungen basiert auf literarischen Vorlagen wie "Dschinns", "GRM. Brainfuck", "Der Meister und Margarita" oder "8 1/2 Millionen". Es gibt Rechercheprojekt wie "Gondelgschichten", Performances und Überschreibungen von klassischen Theater-Stoffen wie "Woyzeck" – oder eben "Sistas!".
Isabelle Redfern und Katharina Stoll haben mit ihrem Kollektiv Glossy Pain Anton Tschechows "Drei Schwestern" von 1901 ins West-Berlin der Nach-Wende-Zeit versetzt. Das amerikanische Militär zieht allmählich ab, und die drei "Sistas!" Olivia, Masha und Ivy sinnieren in ihrer Altbauwohnung, wer sie sind, wohin sie gehören und wo sie eigentlich hinwollen. Ihr identitätsstiftender Sehnsuchtsort ist nicht länger Moskau wie bei Tschechow, sondern "Amerika! Amerika! Amerika!". Die Schwestern sind in Deutschland aufgewachsen und sozialisiert. Vor dem anstehenden Besuch ihres Vaters, einem afroamerikanischen GI, fragen sie sich, ob sie sich doch mehr mit diesem "blinden Fleck" ihrer Herkunft auseinandersetzen sollten – schließlich sind Rassismuserfahrungen schon ihr ganzes Leben omnipräsent. In der Privatheit ihres Zuhauses, einer rosaroten Plüschlandschaft, reflektieren sie in scharfsinnigen Dialogen ihre Identität und Zugehörigkeit.
Dazu kommen der entfremdete, die meiste Zeit abwesende Vater, und die Nachbarin Natty, die als Lebenskünstlerin und Tausendsassa einen Gegenpol zu den im Wartezustand verharrenden Schwestern bildet. Das romantische Klavierspiel von MING untermalt und kontrastiert die Inszenierung. Diese Figuren nun liefern sich einen rasanten Schlagabtausch darüber, ob Tschechows drei Schwestern mit einem BPoC-Cast besetzt werden können und ob Asiat:innen eigentlich Robert Schumann spielen dürfen. Das alles ist so meta, dass einem fast der Kopf schwirrt. Doch diese witzig-kluge Herangehensweise an Themen, die eine aufgeklärte bzw. "woke" Bubble heutzutage beschäftigen – und viele andere mehr beschäftigen sollten – ist erfrischend anders.
"Sistas!" ist von Anfang bis Ende ein unterhaltsamer, vielschichtiger Theaterspaß mit jeder Menge Tiefgang. Der Tschechow’sche Originaltext wird hie und da clever eingeflochten. Immer wieder springen die Figuren auf die Meta-Ebene, führen gnadenlos fatale Stereotypen und Klischeevorstellungen vor, zeigen aber auch, dass sich eigentlich niemand von eigenen Vorurteilen freimachen kann. Gerade die Schwestern wirken oft widersprüchlich, dadurch aber auch nahbar und menschlich. Sie sind viel mehr als nur Sprachrohre für Pamphlete über strukturellen Rassismus, Ausländerfeindlichkeit oder kulturelle Aneignung. Man geht im Anschluss nicht kleinlaut nach Hause, sondern mit einer Menge Gesprächsstoff.
Parallel laufen am Eröffnungsabend der Generationen-Clash, den Rieke Süßkow aus Peter Handkes "Zwiegespräch" am Burgtheater destiliiert hat, und die Performance "Radical Hope - Eye to Eye" von Stef Van Looveren aus Antwerpen. Auf der anschließenden Opening-Party mit DJ EpicFailix an den Decks mischen sich im Schmock und im Hof des Volkstheaters Besucher:innen und Mitwirkende, alle genießen die entspannte Atmosphäre, trinken und diskutieren. Das Volkstheater wird wieder einmal zum Ort eines bunten Miteinanders. Dieser rundum gelungene Festival-Auftakt facht die Erwartungen für die kommenden Tage an!