SEX AND GRIME
Datum
Text: Tobias Obermeier
Es dürfte wohl eine der eindrucksvollsten und anrührendsten Inszenierungen auf dem diesjährigen Radikal Jung-Festival gewesen sein. Und zugleich eine, die wie keine andere dafür sorgte, dass sich sowohl das Publikum als auch die Darsteller:innen auf der Bühne in einem geschützten Raum wiederfanden. Das Theater als umfänglicher Safe Space sozusagen. An der Garderobe und in einer kurzen Ansage wurden die Gäste auf Trigger-Warnungen hingewiesen, bevor es zu „The Dan Daw Show“ in die Bühne 2 des Münchner Volkstheaters ging. Von Darstellungen von Demütigung, dominantem Verhalten, Kink-Erfahrungen und expliziter Sexualität war die Rede. Vorab gab es zudem bereits eine Bühnenbegehung für Menschen mit besonderen Zugangsanforderungen.
Was dann schließlich auf der Bühne passierte, war jedoch alles andere als verstörend oder beunruhigend. Dan Daw, gefeierter Choreograph und Performer aus Großbritannien, ließ sich von seinem Bühnenpartner Christoher Owen in einem intimen und zärtlichen Tanz dominieren. Warum er das macht, erklärte er zu Beginn in einer wohltuend sanften und ironischen Art. Er brauche diese Form von Beherrschung, denn die Gesellschaft ficke Behinderte wie ihn. Wenn er nun zeigt, wie er geliebt werden will, übt er seine eigene Macht aus.
Im Laufe der knapp 90-minütigen Performance lässt er sich als Fußbank verwenden, in den Mund spucken oder in eine Latexbox einschließen, aus der die Luft abgesaugt wird. Zwischendrin ist es immer wieder ein unterwürfiger Tanz, in dem der halbnackte Daw von Owen über den Boden gerollt oder wie eine Schubkarre durch die Luft gewirbelt wird, während wummernde Electro-Sounds den Takt vorgeben.
Es ist keine einfache Show, die Mark Maughan hier inszeniert hat. Mehr Varianz im tänzerischen Spiel hätte gut getan. Hier und da gab es im Publikum auch unruhiges Stöhnen. Aber nach dem grand finale, als Daw wie seine schützende Tätowierung eines japanischen Oni-Dämon mit aufgeblasenen Stachelschwanz auf der Bühne steht und sich seine Unterwürfigkeit in stolze Erhabenheit verwandelt hat, bedankte sich der Großteil des Publikums mit frenetischem Jubel und Standing Ovations.
Das Spiel mit Sexualität war ein wiederkehrendes Thema bei Radikal Jung, auch wenn die Schattierungen in den jeweiligen Inszenierungen ganz unterschiedlich ausfielen. So etwa in "Mein Leben in Aspik" vom Deutschen Theater Berlin. In der grotesken Familiengeschichte nach dem gleichnamigen Roman von Steven Uhly und in der Regie von Friederike Drews geht es drunter und drüber.
Es dreht sich alles um die Erinnerungen an die Oma und ihre Geschichten, um ihre Mordpläne an ihrem Mann (Rattengift im Kukidentwasser), dessen Nazi-Vergangenheit, die verlogene Nachkriegsgeneration, West-Berlin in den 1980er. Es ist ein verrücktes Vexierspiel voller Rätsel und Verwirrungen mit nur zwei Schauspieler:innen auf der Bühne. Und mitten drin: inzestuöse Familienverhältnisse. An der Grenze zur Unerträglichkeit wird detailliert der Cunnilingus mit der Oma beschrieben. Am Ende bekommt sie ein Kind von ihrem Enkel. Leider ist dem Wirrwarr des Familienkonstrukts irgendwann nicht mehr zu folgen. Aber das ist verzeihlich, denn es war ein reines Vergnügen, Susanne Jansen und Simon Brusis im intimen Rahmen der Bühne 3 dabei zuzusehen, wie sie sich virtuos die Bälle zuspielten und mit unterschiedlichen Masken zwischen ihren Rollen im Akkord hin und her wechselten.
Eine ähnliche Schauspielintensität aber mit dreifacher Wucht war am Donnerstagabend in der ausverkauften Bühne 1 bei "GRM. Brainfuck" zu sehen. Mehrmals gab es Szenenapplaus und laute Lacher, als sich die sechs jungen Darsteller:innen mit Vollgas über die ganze Breite der Bühne tanzten, sprinteten und sprangen, als sie zum jazzigen Takt ihre Hüften wippten und selbst ins Mikro sangen. Der Regisseur Dennis Duszczak inszenierte Sybille Bergs zynisch-dystopischen Abgesang auf den Neoliberalismus als halbes Musical für das Theater Dortmund. Bergs bitterböser Entwurf eines totalitären Überwachungsstaats, in der jeder Millimeter des öffentlichen Lebens und selbst jegliche persönlichen Daten mittels eingepflanzten Chip erfasst werden, zeigt sich auf der Bühne als launiges, abwechslungsreiches und überbordendes Spektakel. Dafür wurde alles aufgefahren, was die (Trick-)Technik zu bieten hat. Konfettiregen, Leinwandprojektionen, Videoübertragungen, ein Kulissenwechsel, Einsatz der Drehbühne, Gewehrschüsse und immer wieder die Musik zwischen Jazz und elektrisierendem Grime, die bisweilen in ihrer Opulenz die Schauspieler:innen übertönte.
Einer der Höhepunkte war zweifellos jene Szene, in der Nina Karimy in einer irrwitzigen Porno-Persiflage Linus Ebner als amtierenden Präsidenten durchrammelt. Von vorne, hinten, unten und oben wird er gepackt und penetriert. Halbnackt und oben ohne rollt Karimy ihn über den Boden, versohlt ihm den Hinten und lässt den Gedemütigten am Ende an ihrer Brust nuckeln. Eine Inszenierung der Überforderung und Anstrengung, die nichtsdestotrotz unglaublich unterhaltsam und energiegeladen daherkam und das Publikums auf seine Seite zog.
Mehr zum Autor
Tobias Obermeier studierte Theater- Film- und Medienwissenschaft in Wien und Kulturjournalismus an der HFF München und an der Theaterakademie August Everding. Er ist Programmgestalter beim Filmfest München und arbeitet als freier Autor und Redakteur, u.a. für die taz, Jungle World und das Münchner Feuilleton.