Spiel des Ablebens
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Autorin: Christine Wahl
In "Zwiegespräch", dem jüngsten Theaterstück von Peter Handke, wird viel geklagt. Nicht nur – aber natürlich auch – über das Theater. Wie habe die Bühnenkunst doch einst zu erhellendsten Zwecken so "rechtschaffen weh getan", seufzt der Protagonist des Textes. Und jetzt? Dramatischer Bedeutungsverlust, wohin man blicke! Das Theater habe – ach – sein "Momentum" verloren.
Die gute Nachricht lautet, dass es sich um eine handfeste Fehldiagnose handelt. Das erschließt sich – wir haben es hier mit einem klassischen performativen Widerspruch zu tun – tatsächlich im selben Moment, in dem man dem Barmenden auf der Bühne bei seiner Klageperformance zuschaut. Denn souveräner und nachdrücklicher, als es Rieke Süßkow mit ihrer Urinszenierung von Handkes "Zwiegespräch" im Wiener Akademietheater getan hat, kann man theaterdystopische Gedanken de facto gar nicht vom Tisch wischen!
Um den Clou dieser gewitzten Bühnenumsetzung zu erfassen, ist ein vorheriger Blick in die Textvorlage unumgänglich: Handkes Stück lässt sich als eine Art Selbstgespräch des 80-jährigen Autors lesen. Ein entsprechend betagtes Erzähler-Ich bilanziert darin sein Leben, verortet sich noch einmal in den historischen und künstlerischen Zusammenhängen seiner Zeit und lässt keinen Zweifel daran, dass es diese Zeit für eine sterbende hält. Das Ich präsentiert sich dabei als ein ausdrücklich reflektierendes: Eines, das auf seinen letzten Metern noch einmal genau wissen will, wie es geworden ist, was es ist – und sich deshalb ins Verhältnis zu seinen Großvätern setzt. Zwar fährt sich das Ich in diesem Nachdenkprozess selbst immer mal wieder in die Parade und spricht mit mehreren Stimmen, die sich gegenseitig herausfordern oder auch mal mit verhaltener Ironie auszuhebeln versuchen. Aber rein formal bleibt das "Zwiegespräch" eine epische Angelegenheit, ein gewaltiger Textbrocken zumal: Eine hochgradige Bühnen-Herausforderung, sofern man sich nicht – wie in vergleichbaren Kontexten schon häufig gesehen – auf die berühmte minimalistische Lesestunden-Lösung zurückzieht.
Rieke Süßkow hat sich für so ziemlich das genaue Gegenteil dieser Kleinstlösung entschieden. Und die Inszenierungsidee, die sie stattdessen hatte, ist so naheliegend wie genial: Die Regisseurin – 1990 in Berlin geboren und somit noch nicht einmal halb so alt wie der Autor respektive sein Erzähler-Ich – bezieht das leitmotivische "Großvatertum" des Textes kurzerhand auf ihre eigene Generation. Sie inszeniert das "Zwiegespräch" also nicht als jenen mehrstimmigen Monolog eines alten Mannes über sich und seine Vorfahren, als den man es bei der stillen Lektüre auffasst. Sondern sie macht daraus einen Dialog – zwischen den Eightysomethings der Handke-Generation und deren Enkeltöchtern, mithin eben Süßkows eigener Alterskohorte. "Das war tatsächlich das erste, was mich beim Lesen des Stückes ansprang: dieses Gefühl, da schreibt – auch – ein alter Mann, der Angst hat vor den nachkommenden Generationen", erzählt Rieke Süßkow, die sich in Vorbereitung ihrer Uraufführung intensiv mit der Biografie des Autors auseinandergesetzt hat, im Gespräch. Gereizt habe sie vor allem Handkes doppelte Perspektive: "Er ist ja selbst jemand, der als junger Mensch die Gesellschaft angeklagt und dessen Generation eine RAF hervorgebracht hat. Diese Ambivalenz, einerseits – auch im Text – die Schuld der eigenen Großväter zu befragen und andererseits selbst aus der Großvater-Perspektive auf die Welt zu schauen, hat mich interessiert", sagt die Regisseurin. "Wir stecken ja jetzt wieder in einer Situation, in der eine Generation konkret angeklagt wird – und man sich fragt, ob es überhaupt möglich ist, dieser Schuld zu entgehen. Oder ob wir, also meine Generation, später auch von unseren Enkelkindern angeklagt werden."
Er ist ja selbst jemand, der als junger Mensch die Gesellschaft angeklagt und dessen Generation eine RAF hervorgebracht hat.
Mit ihrer grandiosen Inszenierungsidee bekommt Rieke Süßkow tatsächlich auf einen einzigen – und noch dazu extrem beiläufigen – Schlag sämtliche gesellschaftlichen Großkonfliktlinien in den Blick, an denen sich die Gemüter unserer Tage erhitzen: "jung" versus "alt", "Frau" versus "Mann", "progressiv" versus "konservativ", "Feminismus" versus "Machismo". Dafür allerdings, es sich ungebührlich einfach zu machen und diese beidseitigen Zuschreibungen einfach pauschal zu bestätigen, interessiert sich die Regisseurin erfreulicherweise nicht. "Die Handke-Generation der alten weißen Männer ist ja so ein Feindbild, das ich manchmal als sehr schwarzweiß empfinde", sagt sie. Bei aller zweifelsfreien Unabdingbarkeit von Erneuerung – inhaltlich wie personell – fehle ihr mitunter die Reflexion über Aspekte, die möglicherweise nicht komplett uninteressant waren am Alten – und die "Großzügigkeit, Menschen auch als Produkte ihrer Zeit zu begreifen, ohne damit irgendetwas entschuldigen zu wollen".
Auf der Bühne schafft Rieke Süßkow eine entsprechende Komplexität, indem sie mit den Stereotypen und Zuschreibungen spielt. Die unmittelbare Theater-Situation – kaum über dreißigjährige Nachwuchsregisseurin inszeniert 80-jährigen Literaturnobelpreisträger, und dies an keinem geringeren Ort als dem (mindestens qua Selbstwahrnehmung) Bühnenolymp par excellence, dem Wiener Burgtheater – schwingt die ganze Zeit über beiläufig mit.
Klug und gewitzt ist allerdings nicht nur Rieke Süßkows Konzept, sondern auch seine visuelle Umsetzung. Bühnenbildnerin Mirjam Stängl hat ein Szenario entworfen, das die düstersten Alpträume der Alten aufs Schrecklichste bestätigen dürfte: Wir befinden uns in einer Art Luxusaltenheim, das man sich als abgründige Mischung aus Fünf-Sterne-Hotel und letzter Pflegestation vorstellen muss. Die Klientel wird hier in Rollstühlen zwischen edlen Topfpflanzen umhergeschoben – von jungen Pflegerinnen, die Marlen Duken in adrette Stewardessen-Kostüme gesteckt hat. So harmlos-clean diese Outfits auf den ersten Blick wirken, so unverkennbar strahlen sie allerspätestens auf den dritten eine latente Gespenstigkeit aus – wie eigentlich alles in diesem Setting.
Die porentief gepflegten Hände an den Rollstuhlgriffen, schweben die jungen Frauen in formvollendeten Choreografien über die Bühne, wenn sie die ihnen anvertrauten (Pflege-)Bedürftigen mit einem unermüdlichen Service-Lächeln auf den Lippen zur Spiele-Runde rollen. Es handelt sich dabei um ein tägliches Ritual, zu dem sich vor allem drei alte Herren – Süßkow hat das Erzähler-Ich verdreifacht und auf die Schauspieler Hans Dieter Knebel, Branko Samarovski und Martin Schwab verteilt – leitmotivisch einfinden. Auf dem Plan steht allerdings immer nur ein einziges Spiel: Die "Reise nach Jerusalem". Und jedesmal kehren die Pflegerinnen mit einem Rollstuhl weniger aus dem Gesellschaftszimmer zurück: Wer ausscheidet, wird kurzerhand mit einem Schubs hinter den Paravent entsorgt – allerdings nicht, ohne vorher seinen Spind geöffnet und den jungen Frauen sämtliche Besitztümer ausgehändigt zu haben. Kurze Zeit später leuchtet darin dann eine einsame Kerze, daneben lehnt ein schwarz gerahmtes Porträt des ehemaligen Inhabers: wunderbar abgründig, herrlich absurd, hochnotkomisch und gleichzeitig tieftraurig!
Dass in solchen Momenten eher die Cineastin im Theatersessel getriggert wird als die Bühnenzuschauerin, ist nicht unbegründet. "Ich war von Filmwissenschaft immer inspirierter als von Theaterwissenschaft", erzählt Rieke Süßkow, die in den zehner Jahren in Wien beides studiert hat. Intensiv habe sie sich zum Beispiel mit Fassbinder auseinandergesetzt: "Seine Art, völlig verschiedene Genres zu mixen, dabei mit nichts knauserig zu sein und immer wieder neu die eigene Sprache zu entwickeln, obwohl er nur so kurz gelebt hat, hat mich extrem fasziniert", erklärt sie. Oder Alexander Kluge – "der sagt: Ein roter Faden muss irgendwo durchgeschnitten werden, damit der Zuschauer zum Koautor werden kann." Überhaupt, die Frankfurter Schule – "also Filme, die versuchen, über Schnitt, Collage und Montage Gedanken und Räume aufzumachen, die also bewusst die Lücke thematisieren, die durch den Schnitt entsteht." Da könne das Theater, findet die Regisseurin, sich manchmal ruhig noch ein bisschen mehr trauen.
Starke Setzungen – im konzeptionellen gleichermaßen wie im visuellen Sinne – sind seit jeher Rieke Süßkows Markenzeichen. Schon 2019 in ihrer Diplomarbeit an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg versetzte sie die antike Medea, die bei ihr aussah wie Jackie Kennedy und eine Frau darstellte, die im Grunde nur noch von einem Oberflächen-Korsett des amerikanischen Traums zusammengehalten wurde, in einen durchsichtigen Edelwohnkasten – in dem den ganzen Abend über kein einziges Wort fiel. Stattdessen schaute man der Familie Medea-Kennedy von außen, durch Scheiben aus transparentem Gazestoff, bei ihren Alltagsroutinen zu: Zeitungslektüre, Abendessen, Hausaufgabenerledigung, sexuelle Verrenkungsgymnastik im Ohrensessel. Die Konsequenz, mit der Süßkow in dieser Produktion tatsächlich Sprachlosigkeit inszenierte (und nicht etwa ein populäres Missverständnis von ihr, die beredte Pantomime), hat absoluten Seltenheitswert.
Kein Wunder, dass sie mit "Medea" damals sofort zum Festival "Fast Forward" für junge europäische Regie nach Dresden eingeladen wurde. So wie sie jetzt – mit "Zwiegespräch" – nicht nur bei Radikal Jung gastiert, sondern auch beim diesjährigen Berliner Theatertreffen. Hier, beim Münchner Nachwuchsregiefestival, war sie übrigens schon 2020 mit ihrer Osnabrücker Kevin-Rittberger-Uraufführung "IKI.Radikalmensch" nominiert – in jenem Jahr, in dem das Festival dann pandemiebedingt abgesagt werden musste. "Jetzt freue ich mich, dort tatsächlich mal vertreten zu sein", sagt die Regisseurin – die Radikal Jung nämlich gut kennt: aus Zuschauerinnen-Perspektive. "Als Studentin war ich mehrfach dort und habe mir die Arbeiten angeschaut, weil ich das Festival unglaublich mochte!"
Als Studentin war ich mehrfach dort und habe mir die Arbeiten angeschaut, weil ich das Festival unglaublich mochte!
Apropos Ausbildung: Wie kam Rieke Süßkow eigentlich dorthin, wo sie heute steht? Sie entstamme keinem klassischen Theatergängerumfeld, erzählt sie. "Eigentlich bin ich sehr naiv zum Theater gekommen, einfach mit so einer Leidenschaft und Bildern im Kopf." Nach dem Abitur machte sie im Rahmen eines freiwilligen sozialen Dienstes in Schottland zunächst Theater mit Kindern und Jugendlichen, auch mit kognitiv eingeschränkten und gehörlosen, lernte die Gebärdensprache. Erst danach studierte sie Film- und Theaterwissenschaften in Wien und schließlich Regie in Hamburg: Ein Weg, der sie auch ein Stückweit autonom gemacht habe, sagt die Regisseurin, weniger verunsicherbar durch Trends und andere von außen herangetragene Erwartungen. Diese Autonomie kann sie jetzt sicher gut gebrauchen: Die Theater stehen – zu Recht – bei ihr Schlange.
Mehr zur Autorin
Christine Wahl ist Theaterkritikerin und Mitglied der "Radikal-Jung"-Jury. Sie studierte Germanistik, Philosophie und Soziologie in Freiburg und Berlin und arbeitet seit 1995 als freie Autorin u. a. für den Tagesspiegel, Theater heute und den Spiegel. Von 2020 bis 2021 war sie Redakteurin bei "Theater der Zeit", seit 2022 ist sie Mitglied der nachtkritik-Redaktion. Als Jurorin war sie u. a. für das Berliner Theatertreffen, den Hauptstadtkulturfonds, den Kranichsteiner Literaturpreis, den Berliner Senat und das Festival "Impulse" tätig und gehört aktuell dem Auswahlgremium der Mülheimer Theatertage "Stücke" an.