Theater von der Basis
Datum
Text: Charlotte Orti von Havranek
Für diese theatrale Kontaktaufnahme, die Berührung, das Involvieren in das, was von der Bühne ausgeht, scheint die Theatermacherin allerdings erst einmal keine formal-ästhetisch erkennbaren Strategien anwenden zu wollen. Es wird keine vierte Wand eingerissen, nicht im Saal gespielt, kein Publikum auf die Bühne gesetzt. Woodcock-Stewart hat die Regie-Bühne nicht unter dem klassischen Label einer neuen Theaterform betreten. Sie arbeitet mit dem, was alle kennen und was doch gelegentlich schwer zu greifen, geschweige denn auf den Punkt zu bringen ist. Ihr Gegenstand der Verhandlung ist das, was von Seele zu Seele, von Temperament zu Temperament, von Empathiker*in zu Empathiker*in diffundiert. Es sind jene Gemengelagen an starken, überwältigenden, zuweilen diffusen Empfindungen, die uns im Leben so angreifbar machen, so leicht verunsichern, so schnell vor einen Abgrund bringen. Es sind diese Wahrnehmungen an sich und von sich selbst, die nicht selten darüber entscheiden, ob wir klar kommen oder eher nicht. Ob wir Glücksgefühle haben oder Panik. Ob wir den Druck aushalten. Oder ob wir Innen und Außen überhaupt noch auseinander halten können. Und noch eines liegt in der Natur dieser Gefühlslagen. Wenn es dick kommt, also meistens, liefern sie alles gleichzeitig: Zuneigung, Ablehnung, Wut, Trauer, Liebe, Verzweiflung, Gemeinheit, Grausamkeit, Rückzug, Kontrollwahn, Hass, Verlangen, Angst, verzweifelten Humor. Es ist das Dickicht, durch das hindurch wir zu kommunizieren versuchen – zwischen Anziehung und Abstoßung - hin zum anderen, weg vom anderen – nicht wirklich wissend, ob wir es noch aushalten soziale Wesen zu sein, ob wir es noch mit uns selbst aushalten. Natürlich gibt es eine Bandbreite komplexer Gründe für diese 'Zustände'. Aber genau dort anzufangen – ganz essentiell – ist eine eigene, bemerkenswerte künstlerische Setzung.
Ein weiteres wesentliches Moment in den Theaterarbeiten Jaz Woodcock-Stewarts ist die Physis, die Bewegung, der Körper. Es klingt fast banal, aber es ist auffällig zentral in der Theatersprache dieser Regisseurin, in welcher Weise die Körper der Performer*innen auf der Bühne zum Dreh- und Angelpunkt der Inszenierung werden. Die Physis „sendet“, ist Transmitter von Innen nach Außen wie umgekehrt, ist Botschaft wie Bote und öffnet individuelle Räume auf beiden Seiten der Rampe. Und das nicht nur wie im Fall von CIVILISATION, wo Woodcock-Stewart mit einer Schauspielerin, einer Choreografin und drei Tänzer*innen einen gemeinsamen Arbeitsprozess eingegangen ist, dessen außerordentliche Konsequenz, Dynamik, Poesie und Zartheit seines Gleichen sucht. Und doch ist CIVILISATION ein ganz besonderes Beispiel dieser Dramaturgie der Körper im Raum, die wie zwei Welten gleichzeitig erschaffen, die es braucht, um nahezu wortlos über einen emotionalen Ausnahmezustand "zu sprechen".
In LANDS von 2016/18, das auf einer Mini-Bühne spielt, sitzt eine der beiden Spielerinnen an einem Tisch mit einem enormen Puzzle und bespricht ihre Umwelt mit detailreichen wie spekulativen Beschreibungen der durchnummerierten Puzzle-Teile vor ihr und dem möglichen Szenarium, das sie am Ende ergeben. Neben ihr wippt eine zweite Spielerin auf einem Trampolin, von dem sie das ganze Stück über nicht herunter kommt, fast nicht. Natürlich ist es die Puzzle-Spielerin Leah, die als erste die Balance verliert, und zwar schon bei Minute drei des Abends, als die Trampolin-Springerin Sophie Obstschalen auf den Boden fallen lässt und nicht wieder aufhebt. Denn das kann sie nicht. Sie kann nicht runter vom Trampolin. Sie kann nicht aufhören, zu wippen. Das Trampolin bestimmt alles, was sie tut. Es ist das Fundament ihres Seins. Und obwohl es dafür nicht die geringste Erklärung gibt, versteht man, dass es genau so ist. Und dass genau das der Ausgangspunkt ist für einen psychologischen Ringkampf zwischen zwei Menschen, dem man als Publikum in einer absurden Mischung aus Atemlosigkeit, suchtgefährdender Schaulust und Schuldgefühlen folgt, je nachdem auf welche Seite man sich schlägt und ob man sich danach sehnt, dass sich die Spannung löst, oder eben nicht.
In der Performance SOMETHING NEW, entstanden 2019 im Rahmen eines Workshops des Performance Laboratory am Mozarteum Salzburg, schleudert eine Tänzerin ihre beiden Schauspieler-Kollegen jedes Mal, wenn sie eine Schrittfolge nicht so ausführen, wie sie es haben will, gegen eine große blaue Turnmatte. Auf der markieren gelbe im Kreis angeordnete Kreuzchen den Sternen-Kranz der Europäischen Union. Die Metapher ist klar: Die Interessengemeinschaft, in der die Interessen immer wieder aufs Neue und unter wechselnden Vorzeichen ausgehandelt werden, ist ein Dominanz-Geschäft, bei dem alle darum bemüht sind, möglichst schnell von den Strategien ihrer Gegner zu lernen. Also finden in dieser vermeintlich binär konstruierten Situation die Männer/Schauspieler mit der Zeit einen Weg "das Spiel" der Frau/Tänzerin umzudrehen und ihr die selben Sanktionen angedeihen zu lassen, solange bis sie es wieder schafft, die Allianz der Männer zu zerlegen und erneut Oberwasser zu gewinnen. Die binär oppositionellen Rollenmodelle werden hier mit der Opposition von Schauspiel und Tanz gedoppelt, als einer Übersetzung der Kompetenz- und Machtfrage. Das politische Vorzeichen Europa springt über auf den Kunstprozess und wieder zurück. Der Umgang miteinander ist Teil einer Dominanz-Praxis: der Politik, der Geschichte, der Kultur. Es geht darum, jemandem seinen Standpunkt aufzuzwingen. Gleichzeitig lässt einen die Inszenierung mit einer beunruhigenden Ambivalenz im Verhältnis der Beteiligten zurück. Von den drei Performer*innen geht eine diffuse und doch spürbar aufgeladenen Mischung aus Lust, Ehrgeiz, Herrschsucht, Spieltrieb, Revanchismus, Unberechenbarkeit aus, verbunden mit dem Gefühl, dass das ewig so weiter gehen wird. Jaz Woodcok-Stewart dringt in SOMETHING NEW mit einer vermeintlich simplen Versuchsanordnung in die Tiefenstruktur sich reproduzierender Gewaltverhältnisses vor. Und das so geschickt, so wahrhaftig, so dermaßen "mit Haut und Haar", dass sie es schafft, in der klassischen Theatersituation einen Raum zu öffnen, in dem eine komplexe Erfahrung geteilt wird. Die Inszenierung zielt auch auf den Körper des Publikums und auf einen Wahrnehmungsapparat, mit dem gleichzeitig gefühlt und gedacht werden kann.
LANDS, SOMETHING NEW, CIVILISATION sind allesamt Stückentwicklungen, die in enger Zusammenarbeit mit den Beteiligten entstanden sind. Im Falle von LANDS, das als Theatertext bei Oberonbooks erschienen ist, heißt es im Vorwort: "The script is not sacred, it’s a blueprint for performance. The words should feel comfortable in the mouths of the performers. If they don’t, change them. […] Lands is not a play in the traditional sense. Creating it involved different processes: some of it written, some of it improvised by the actors, written down and edited, and some of it improvised each performance, the nuances of which are virtually impossible to document." Das dokumentiert einen Arbeitsprozess, der das Momentum des Theaters, das Flüchtige, den menschlichen Faktor, den Realismus des Gegenwärtigen im fiktiven Raum der Bühne als Kraftzentrum sucht und meint. Ich bin davon überzeugt, dass die Intensität, die Glaubwürdigkeit, die besondere Durchlässigkeit der Performer*innen in den Theaterarbeiten Jaz Woodcock-Stewarts sehr viel mit dieser Arbeitsweise zu tun hat.
Ausgenommen von der mit gelben Kreuzen beklebten blauen Turnmatte in SOMETHING NEW gibt es in Woodcock-Stewarts Stücken oftmals eher wenig Anhaltspunkte für sozial determinierende Kontexte, Rollenmodelle oder Milieus. Und dennoch oder obwohl oder vielleicht gerade darum geht es deutlich wahrnehmbar um die Basis der Verhältnisse, um das, was sich nicht delegieren lässt, um die widersprüchlichen Koordinaten unserer Humanität. Ich habe mich gefragt, warum eine Theaterregisseurin, die die Fähigkeit hat, so überzeugend, poetisch und kraftvoll komplexe Seelenzustände und Beziehungen auf die Bühne zu bringen und im selben Moment so zugänglich, allgemeingültig, analytisch, zart und scharf, zugewandt und fordernd zu erzählen, warum eine solche Theaterregisseurin so lange braucht, um auf dem britischen Theatermarkt aufzufallen und arbeiten zu können. Nach einer Schauspielausbildung an der Londoner East 15 Acting School, während der sie zum Gründungsmitglied der freien Gruppe Antler wird, nach zwei Aufbau-Kursen in Theaterregie am Young Vic und am National Theatre in London folgen eine Reihe kleinerer Arbeiten, Try outs, Workshops mit neuen Texten und drei Jahre als Regieassistentin u. a. bei Ivo van Hove und Simon McBurney. Für Inszenierungen mit Schauspiel-Studierenden kehrt sie an ihren Ausbildungsort zurück, doch so etwas wie ein breitere Wahrnehmung in der britischen Theateröffentlichkeit bahnt sich erst im August 2019 an, als CIVILISATION beim Edinburgh Fringe Festival im Gewühl des theatralen Überangebots eine Kettenreaktion verblüffter Theatergänger*innen auslöst. Das, was die Leute zu beschreiben versuchen und was auf einer kleinen Off-Bühne stattfindet, scheint die Kriterien des Fassbaren zu sprengen:
Das Außerordentliche, vielleicht Wegweisende, das hier anklingt, liegt in dem, was der britische Autor Chris Thorpe mit den Worten "It just does not let you go" beschreibt: Ein Theatererlebnis, das so intensiv ist, dass es fast zu einer Erfahrung des eigenen Lebens wird. Und weil es aber Kunst ist, Fiktion, Imagination, Vorstellungskraft, ein Geschenk von einem zum anderen, ein Bekenntnis, ein Eingeständnis und, um eine Formulierung Alexander Kluges zu verwenden "ein Kraftwerk der Gefühle", bedeutet es einen unerwarteten Bewegungs- und Reflexionsraum in einer Realität, die so vielfältig determiniert und auserzählt zu sein scheint. Jaz Woodcock-Stewart erschließt sich und den Zuschauenden das Theater als einen Erfahrungsraum, der fundamental die Präsenz nutzt, das gleichzeitig in der Welt sein, um danach zu fragen, wo wir stehen. Das ist ein immens kostbarer Spielraum und es macht das Theater von Jaz Woodcock-Stewart durchaus zu einer Kunst, die mit Zukunft geladen ist.
It just does not let you go.
Mehr zur Autorin
Als Tanz- und Schauspieldramaturgin hat Charlotte Orti von Havranek mit dem deutschsprachigen Repertoiretheater wie mit zahlreichen Stück- und Projektentwicklungen und internationaler Zusammenarbeit Erfahrung gesammelt. Seit 2011 koordiniert sie das von Joachim Klement am Staatstheater Braunschweig gegründete und von Barbara Engelhardt kuratierte europäische Festival für junge Regie Fast Forward und verantwortet dessen Rahmenprogramm. 2018 übernahm sie als Kuratorin auch die künstlerische Leitung von Fast Forward, das nun jedes Jahr im November am Staatsschauspiel Dresden stattfindet.