"Was Theater eben noch alles (sein) kann"
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Interview: Marvin Wittiber
Warum hast du dich bei deiner Inszenierung für Kim de l’Horizons "Blutbuch" entschieden?
Jan Friedrich: "Blutbuch" ist eins der mutigsten, berührendsten und empathischsten Bücher, das ich in meinem Leben gelesen habe. Aus meiner Sicht ist das zentrale Thema das Erbe im weitesten Sinne: Das Vererben von Scham und Traumata, von Rassismus und wie es sich intergenerational durchsetzt. Und gleichzeitig das Aufarbeiten von dem, was man aus seiner Herkunftsfamilie geerbt hat, und was da weitergegeben wird. Deshalb stehen in meiner Inszenierung auch die drei Generationen der Familie im Vordergrund – die erzählende Person, die Mutter und die Großmutter. Nichtsdestotrotz habe ich versucht, auch die anderen Themen und Handlungsstränge nicht zu vernachlässigen. Aber ja: Manchmal muss man auch einfach auf etwas verzichten und es streichen.
Das war eine wahnsinnig schöne Geste. Da habe ich mich sehr gehört und gesehen gefühlt.
Wie hat denn die Dramaturgie des Theaters auf deinen Stoffvorschlag reagiert?
Eigentlich war auf dieser Position im Spielplan in Magdeburg ein Klassiker für die große Bühne geplant. Und der war auch schon in der Mache. Eines Abends saß ich dann allerdings mit Bastian Lomsché (Anm. d. Red.: Leitung Programm und Dramaturgie Schauspiel am Theater Magdeburg) in einer Bar und habe erzählt, dass ich ein bisschen müde davon bin, Klassiker zu inszenieren, weil man sich immer einen außergewöhnlichen Zugriff überlegen muss. Und dass ich eigentlich viel lieber Stoffe machen würde, die für sich alleinstehend großartig und erzählenswert sind. Aber vorgeschlagen habe ich da nichts Konkretes.
Wann kam dann die konkrete Idee zum "Blutbuch"?
Das war am Tag vor der "Woyzeck"-Premiere in Magdeburg. Bastian Lomsché sagte, er hätte eine Überraschung für mich. Und so habe ich erfahren, dass sie hinter meinem Rücken die Rechte für "Blutbuch" angefragt haben und mir das Angebot machen wollen, meine Stückauswahl nochmal zu ändern, damit ich das machen könne, was ich wirklich machen möchte. Das war eine wahnsinnig schöne Geste. Da habe ich mich sehr gehört und gesehen gefühlt.
Wie war deine Herangehensweise?
Da die fünf Teile des Buchs sehr unterschiedlich sind, habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, für jeden Teil eine eigene Form zu finden. Eigentlich genau wie es Kim de l'Horizon in seinem Buch gemacht hat. Dabei bildet stilistisch gesehen das Live-Video den roten Faden, mit dem wir viele Szenen, die die Vergangenheit beschreiben, erzählen.
Warum hast du dich entschieden, den Stoff mit einem siebenköpfigen Ensemble auf die Bühne zu bringen und nicht etwa als Monolog?
In einem Absatz des Buchs schreibt Kim de l'Horizon über die vielen Facetten des Ichs und dass es großen Spaß macht, die aneinander zu reiben – also beispielsweise das tiefenpsychologische Ich und das queere Ich. Es geht also um den Pluralismus des Ichs und darum, dass jeder Mensch aus einer Vielzahl von Anteilen besteht. Und das war der ausschlaggebende Punkt für mich, den Stoff nicht als Monolog zu machen, sondern sehr viele Farben – auch von Sprecher*innen und Stimmen – und Vielfältigkeit zu zeigen. Auch wenn es die Erzählung einer einzelnen Person ist, geht es im Buch auch oft um die inneren Stimmen. Das mit einem großen, queeren Ensemble auf die Bühne zu bringen, ist ein wichtiges Zeichen.
Was bedeutet dir die zweite Einladung zum "Radikal jung Festival" in Folge?
Sehr viel. Gerade weil die Inszenierung für mich super prägend war und ich nie zuvor so viel Wertschätzung und Anerkennung vom Publikum erfahren habe. Und es hat mich auch nachhaltig verändert: Ich will jetzt mehr Themen auf die Bühne bringen, die wirklich was mit mir zu tun haben und mich auch persönlich berühren. Klar kann man sich ein originelles Inszenierungskonzept für einen Klassiker wie "Woyzeck" ausdenken und das erfolgreich umsetzen. Aber einen Stoff wie "Blutbuch" auf die Bühne zu bringen, ist wie ein Quantensprung. Dass die Inszenierung in Magdeburg so gut ankommt, hat sicher viel damit zu tun, dass der Stoff so viel mit uns Menschen im Hier und Jetzt zu tun hat. Das hat dann nochmal eine ganz andere Qualität. Da habe ich für mich selbst entdecken können, was Theater eben noch alles (sein) kann.
Mehr zum Autor
Marvin Wittiber, geboren 1998, studierte Sozialwissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Er arbeitet als freier Autor, Journalist und Kritiker, u. a. bereits für "Mannschaft Magazin", queer.de, "junge bühne", Film- und Medienstiftung NRW sowie für "kritik-gestalten", "StückeBlog" der Mülheimer Theatertage und youpod.de. Darüber hinaus war er von 2020 bis 2023 Juror des Bundestreffens Jugendclubs an Theatern.