Wir nehmen das Theater sehr ernst, aber das Theater ist nicht das Wichtigste auf diesem Planeten – Die Realität ist es.
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Damit Menschen, die in die Vorstellung kommen, sich sicherer fühlen, etwas zum Festhalten haben, beschäftigen wir uns mit den Inhalten der 'Odyssee'. Darunter legen wir die Erfahrungen von realen Menschen, die Verwandte an der Front haben, die ihre Häuser verloren haben – die Zuschauer*innenschaft wird das so verstehen.“
Text: Elisabeth Pape
Homers Epos "Odyssee" erzählt in 24 Gesängen von Odysseus‘ Abenteuern und Prüfungen auf seiner Reise zurück nach Ithaka, wo seine Frau, Penelope, und sein Sohn, Telemachos, auf ihn warten. Der erste Gesang bei Homer fängt so an:
"Sage mir Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes.
Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung,
Vieler Menschen Städte gesehen, und Sitte gelernt hat,
Und auf dem Meere so viel‘ unnennbare Leiden erduldet."
Die "Odyssee" von Pavlo Arie im Düsseldorfer Schauspielhaus fängt hingegen so an:
"Ich heiße Julia. Ich habe zwei Kinder, ich habe einen Mann, aber ich habe kein Leben. Denn mein Mann ist jetzt an der Front, und wir sind hier. Jetzt ist unser Leben ein einziges Warten. Jeden Tag durchleben wir immer neue Phasen des Wartens. Ich hatte große Angst, ihn gehen zu lassen. Eines Morgens sah ich ihn dann in Uniform und begriff: jetzt bin ich zu der Frau geworden, die auf die Heimkehr ihres Mannes aus dem Krieg wartet."
Bevor der erste Text gesprochen wird, gibt es eine lange Eingangsszene, Bilder die an das Ankommen geflüchteter Frauen mit ihren Kindern in den ersten Wochen nach Beginn von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine am 24.02.2022 an den Hauptbahnhöfen Deutschlands erinnern. Das von Pauline Barreiro entworfene Bühnenbild gleicht einer Haltestelle eines Hauptbahnhofes – Neonlicht, zwei Bänke, ein Mülleimer aus kaltem Stahl. Die DB-Tafel wird jetzt genutzt, um die Übertitel zu präsentieren, sie schweben nicht irgendwo ganz weit oben, losgelöst vom Geschehen, sondern sind eingebettet, immer sichtbar im Bild. Die Sprachen Ukrainisch und Deutsch, die ungewollt ganz nah beieinander sind, sie sind Teil des Geschehens. Eine neue Realität überall in Deutschland.
Bereits in den ersten Minuten sehen wir das gesamte Frauenensemble auf der Bühne, neben den erwachsenen Darsteller*innen auch drei weibliche Teenager. Im Verlauf werden noch zwei ukrainische Jungs die Bühne betreten. Aber Männer fehlen.
Eine dieser Frauen ist die ukrainische Sängerin, Komponistin und Folkloristin Mariana Sadovska, für sie sei die Musik einerseits eine Möglichkeit, uns von Schmerz und Trauer zu befreien, und andererseits, bestimmte Dinge zu überdenken und darüber zu sprechen. Die Musik schaffe ein Gleichgewicht, sodass sich die beiden Kulturen – die ukrainische und die deutsche – auf Augenhöhe treffen können. Und so scheint die ganze Aufführung gedacht und angelegt zu sein: Gehüllt in eine musikalische Atmosphäre der Begegnung.
In der Düsseldorfer Inszenierung treffen sich die Frauen, da trifft sich das gesamte Ensemble auf Augenhöhe, und damit treffen sie uns, das Publikum. Es gelingt, die Frauen nicht auszustellen, sie nicht als schwach, als Opfer zu zeigen, sondern genau das Gegenteil eintreten zu lassen: Die Frauen sind stark, die Frauen wissen, das Erlebte einzuordnen und finden für ihre traumatischen Erfahrungen eine Sprache, auf einer Bühne, mit unglaublicher Präsenz. Und die Musik hält all das, sie schafft den richtigen Abstand, das richtige Nähe-Distanz-Verhältnis, vermittelt diese Begegnungen. Stas Zhyrkov, der Regisseur des Abends, beweist hier das richtige Händchen für das Verhältnis zwischen Musik, Atmosphäre und harter Realität, die nur allzu schnell in blanke Betroffenheit abgleiten könnte.
Aber zurück zum Anfangsmonolog von Yuulia/Julia, die mit ihrem Sohn zurückgeblieben ist, wie viele geflüchtete Frauen aus der Ukraine, die ihre Freunde, Brüder, ihren Mann, und Sohn im Land zurücklassen musste und darauf wartet, dass sie zurückkommen, wie Penelope. Zurück zu Yuulia, der echten Person Yuulia, die keine Figur ist. Yuulia, die tatsächlich den Koffer packte, und sich am 24.02.2022 fragte: Fortgehen oder bleiben?
Es ist ein Projekt mit, von und über diese Frauen. Mit dreien von ihnen habe ich gesprochen, um herauszufinden wie man eine Aufführung erarbeiten kann über etwas, das sich gerade in größter Heftigkeit an ihnen vollzieht, und was das in ihnen auslöst.
Warum also – und vor allem wie – an einem solchen Projekt teilnehmen, in dieser Situation des Wartens und Bangens?
Wie funktioniert der Mensch in einem Außnahmezustand?
"Ich war von Menschen umgeben, die dieselbe Sprache sprechen wie ich, die mit meiner Heimat verbunden sind und die ich meine Gleichgesinnten nennen kann. Ich fühlte, dass es ein wichtiger Auftrag sein würde, dem deutschen Publikum von uns zu erzählen – unsere Geschichten zu erzählen. Dieses Projekt war für mich eine Rettung. Hier fühlte ich mich gebraucht und aufgehoben. Auch wenn es jedesmal wieder eine große Herausforderung ist, von meinen Erfahrungen zu erzählen, mich erneut zu konfrontieren" sagt Yuulia.
Jeder Moment der Aufführung macht klar: Das, was dort auf der Bühne erzählt wird, ist die bittere Realität für diese Frauen. Die Frage: "Wie funktioniert der Mensch in einem Ausnahmezustand?" steht fast greifbar im Raum.
Und weiter sagt Yuulia: "Mein Mann ist immer noch an der Front, er ist in einer sehr gefährlichen Zone, wo es ständig Kämpfe gibt. Deshalb ist es nicht einfach, über ihn zu sprechen, während ihm jeden Moment etwas zustoßen kann. Aber: Es ist wichtig zu sagen, dass das Spiel uns kein noch größeres Trauma verursacht – im Gegenteil, es hilft uns, diese Erfahrung zu überleben. Stas Zhyrkov und Pavlo Arie helfen uns dabei."
"Fortgehen oder bleiben?"
Immer wieder chorische Passagen, die eine enorme Wucht haben und zeigen: Diese Frauen da auf der Bühne, die haben das so erfahren, genau so. Aber nicht nur sie! Ganz vielen anderen, die da nicht stehen, erging es auch so. Die Bühne, sie multipliziert hier.
"Fortgehen oder bleiben?"
Wer flieht, muss eine Entscheidung treffen, Hände hat man nur zwei. Was nimmt man mit? Was ist so wichtig, dass man es dabeihaben muss?
"Wer flieht, muss eine Entscheidung treffen, Hände hat man nur zwei. Was nimmt man mit? Was ist so wichtig, dass man es dabeihaben muss? Nimm Dokumente, Medikamente, Geld und Essen mit, dachte ich. Man muss den Körper am Leben halten – und dann, weil ich es gewöhnt war, dachte ich: Mach die Elektrogeräte aus, drehe Gas und Wasser ab. Schalt das Licht aus, zieh die Vorhänge zu", erzählt Vasylysa Furmanova.
Diese Erfahrungen werden immer wieder mit direkten Homer-Referenzen konfrontiert. Während in Homers "Odyssee" Penelope nur mit Telemachos redet, also über keine Öffentlichkeit verfügt und erst einen längeren Redeanteil im 23.Gesang bekommt, kommt die Düsseldorfer Penelope in der ersten Viertelstunde zu Wort. Die vier deutschen Darstellerinnen tragen goldene, schnörkelige Haarreifen und ein Sektglas in der Hand.
Aber wie kamen denn die ukrainischen Darstellerinnen damit zurecht, dass auch Frauen aus Deutschland mit auf der Bühne standen? Frauen, die eben nicht fliehen mussten. Welche Begegnung kommt da zustande?
"Als wir die erste Szene probten, die Szene unseres Ankommens am Bahnhof, wussten die deutschen Frauen noch nicht, worum es geht, was wir da sagen, weil es die Übersetzung noch nicht gab. Sie haben nur den Klang unserer Stimmen gehört und unsere Emotionen gesehen, und jedes Mal haben sie gesagt, dass sie sehr beeindruckt waren. Dass sie gespürt haben, was Menschen in dem Moment fühlen. Und das sagt uns, dass wir manchmal keine Übersetzung brauchen, sondern nur Menschen mit einem offenen Herzen, und das hat uns Hoffnung gemacht." so Olha Fish.
In allen Gesprächen, die ich mit Menschen aus dem Team führe, geht es genau darum: Humanität. Menschlichkeit. Empathie. Das Theater, das Menschen zusammenbringt.
"Strukturell ist das in der Form des Theaters angelegt, weil es die scheinende natürliche Präsenz des menschlichen Körpers zum Gegenstand hat – des Theaterkörpers, der sich von allen abgebildeten, illusionierten, fotografierten und simulierten Körpern radikal unterscheidet", so der Großmeister des postdramatischen Theaters Hans-Thies Lehmann in seinem Buch "Postdramatisches Theater". Und das ist es, was in dieser "Odyssee" zum Tragen kommt.
Indem mir die Frauen ihre Geschichten erzählen, merke ich, wie sich mein Empathie-Empfinden mehr öffnet, mehr noch, wenn sich die Frauen auf Ukrainisch mitteilen, als wenn die deutschen Frauen das Wort ergreifen. Das liegt auch daran, dass die deutschen Frauen die Parts übernehmen, die u.a. konkreter an Homer anknüpfen, sie erzählen also mehr die klassische "Odyssee" und spannen damit einen Mantel auf, der alles zusammenhält, Schutz bietet für die persönlichen Geschichten.
In der Szene von Oleksandra Dolobovksa und Vasylysa Furmanova, 17 und 19 Jahre alt, wird uns eine andere Sicht auf den Krieg gezeigt. Sie performen beide mit Gitarren, teilweise im Punksprechgesang. Acht Menschen saßen in einem kleinen Auto, dabei die neue Frau des Vaters – und wieder bricht so eine Realität über mich ein: Die Menschen hatten ja davor ein Leben, und selbst in Extremsituationen lösen sich zuvor herrschende Dynamiken ja nicht in Luft auf. Diese vermeintlich kleinen Momente entfalten in der Odyssee von Stas Zhyrkov und Pavlo Arie die tiefgreifendsten Erkenntnismomente in mir. Sie erschaffen ein Theater aus größter Nähe.
Vasilysa dagegen erzählt, was sie mitnahm: "Musikkram, meinen Vibrator und meine Dolce & Gabbana Hose". Außerdem ihre Katzen, 12 Kilogramm Katzen. Sie erzählt, oder nein: sie singt, oder nein: sie performt von der Flucht, zunächst überhaupt einen Zug zu bekommen, Gemenge vor dem Evakuierungszug, Messergesteche, stornierte Zugfahrt nach Polen, dann: wie sie sich Windeln anzog, weil sie nicht wusste, ob es im Zug Toiletten geben wird – 16 Stunden stand sie dann im Zug, mit ihren Katzen zwischen den Beinen, dick angezogen, weil man zuvor nicht wusste, ob man lange laufen müsste bei den eisigen Temperaturen. "Das war einer der Momente in meinem Leben, wo ich dachte, dass ich verrückt werde."
Das war einer der Momente in meinem Leben, wo ich dachte, dass ich verrückt werde.
Für Vasylysa war die Arbeit an der „Odyssee“ wie eine neue Familie in Düsseldorf zu finden – und ein großer Schritt zu verstehen, dass sie in Deutschland Fuß fassen kann, dass sie in Deutschland Künstlerin sein kann.
"Ein ganz großes Anliegen des Stückes ist zu zeigen, dass Ukrainer*innen eine eigene Kultur haben! Wir sind talentiert, wir haben unser eigenes Theater, wir haben unsere eigenen Musiker*innen. Wir sind kein Russland-Doppelgänger", sagt Vasylysa Furmanova, und Yuulia Birzul ergänzt: "Lange Zeit verbreitete die russische Propaganda sogar im Ausland Narrative über das Fehlen ukrainischer Kultur und sprach einzig von einer Brudernation. Jahrhundertelang haben sie die ukrainische Kultur zerstört, ukrainische Künstler*innen und Autor*innen vernichtet und die ukrainische Sprache verboten. Aber unsere Kultur ist reich und schön, und wir möchten, dass die Europäer sie für sich entdecken."
Diese 'Odyssee' ist sogar mehr 'Odyssee', als sie es wäre, wenn wir nur den klassischen Text spielen würden, da diese
'Odyssee' eine wirkliche Reise ist. Ein Versuch, etwas zu suchen, der Versuch, etwas zu finden.
Es war Birgit Lengers' Idee, die "Odyssee" als Ausgangsmaterial zu verwenden. Sie ist Initiatorin und Leiterin des Stadt:Kollektiv in Düsseldorf. Als Kuratorin des Festivals RADAR OST verfügt sie über große Kenntnise des osteuropäischen Raums und zahlreiche internationale Kontakte, und so hatte sie den Wunsch, mit Stas Zhyrkov und Pavlo Arie zusammenzuarbeiten, um die Parallelen der "Odyssee" zu den Lebensrealitäten der ukrainischen geflüchteten Frauen zu erforschen. Die Trennung von Geliebten, die Sehnsucht, das Warten darauf, wieder zusammen zu sein, die Telemachie. Das Thema der Erinnerung, der Uneinigkeit und das der aktiven Suche nach einem Ausweg – Penelope, die nicht einfach nur dasitzt und auf Odysseus wartet, wurde zum Fokus.
Und so ergibt das Neulesen dieses alten Stoffes einen Mehrwert für beide Seiten. Durch seine Rahmung kommt es zu einer Überhöhung der privaten biographischen Geschichten, die an etwas Überzeitliches andocken.
Der Regisseur Stas Zhyrkov sagt: "Diese 'Odyssee' ist sogar mehr 'Odyssee', als sie es wäre, wenn wir nur den klassischen Text spielen würden, da diese 'Odyssee' eine wirkliche Reise ist. Ein Versuch, etwas zu suchen, der Versuch, etwas zu finden."
Stas, der anfing als Regisseur zu arbeiten, weil er an das Theater und sein Veränderungspotential glaubt, sieht in der "Odyssee" folgendes Potential: "Wir vermitteln den Leuten die Erfahrung von realen Menschen, die Verwandte an der Front haben, die ihre Wohnungen verloren haben, die eine Erfahrung haben, die dem Publikum fehlt. Das Publikum versteht, leidet und fühlt mit den Menschen auf der Bühne und vertieft womöglich seine Meinung zu der Situation. Das Theater bietet uns eine körperliche Erfahrung, in der wir begreifen anstatt nur zu verstehen."
Doch das heißt nicht, dass im Theater von Stas Zhyrkov alles nur mit Authentizität untermauert ist. Eine der deutschen Darstellerinnen erzählt, wie sie als Hundeführerin in den Krieg zog. Hier wird nicht das eigene Erlebte erzählt, sondern eine Geschichte übernommen, es scheint wie eine Hilfe beim (Er-)Tragen, eine Geste der Solidarität: Wir sind hier zusammen.
Wir nehmen das Theater sehr ernst, aber das Theater ist nicht das Wichtigste auf diesem Planeten. Das Theater hier ist nur eine Art der Kommunikation, etwas für die Menschen aus der Ukraine zu tun.
Dieser Abend ist so reich, so voll an Themen, Ideen, Geschichten und Gefühlen, so voll an Formen und Spiel mit dem Theater, voll von ausgezeichneten Szenen auf handwerklich höchstem Niveau, gearbeitet mit Performerinnen, die ihr eigenes Material auf die Bühne bringen, um es auf großzügigste Art und Weise mit uns zu teilen. Dieser Abend hat ein Anliegen, nicht nur einen Erzählanlass. Man merkt in jedem Moment, was Stas Zhyrkov sagt:
"Wir nehmen das Theater sehr ernst, aber das Theater ist nicht das Wichtigste auf diesem Planeten. Das Theater hier ist nur eine Art der Kommunikation, etwas für die Menschen aus der Ukraine zu tun."
Mehr zur Autorin
Elisabeth Pape, geboren 1995, wuchs zwischen Berlin und Czernowitz/Ukraine auf, studierte Theater- und Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin und anschließend Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin. Für das Theater Koblenz hat sie Anton Tschechows Der Kirschgarten neu bearbeitet und ergänzt; Premiere war am 21.05.2022 in der Regie von Markus Dietze. Ihr Stück Extra Zero wurde mit dem Kleist-Förderpreis 2023 ausgezeichnet. Außerdem erhielt sie das Leonhard-Frank-Stipendium 2023, das vom Mainfranken Theater Würzburg vergeben wird.