Wo ist denn hier der Widerspruch?
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Text: Christine Wahl
Der Tagelöhner "Woyzeck" als narzisstischer Star-Schauspieler, der griechische Heerführer Agamemnon als gewissenloser Ethikprofessor oder eine "Nora", die schon im Prolog mit der Forderung "Fickt das Patriarchat" an die Rampe tritt: Dass Theater-Klassiker heute auf der Bühne völlig neu erzählt werden – also nicht nur mittels einer Regie, die die Parallelen zur Gegenwart betont, sondern tatsächlich mit neu geschriebenen Texten – ist keine Seltenheit. Im Gegenteil: "Überschreibungen" – so der Sammelbegriff, der sich für die verschiedensten Varianten einer solchen Theaterkanon-inspirierten Dramatik etabliert hat – liegen derzeit im Trend.
So außergewöhnlich wie "Sistas!" – eine Produktion des freien Theaterkollektivs GlossyPain im 3. Stock der Berliner Volksbühne – sind sie allerdings selten. Der Abend nimmt sich Anton Tschechows "Drei Schwestern" zum Sprungbrett: Frauen auf Lebenssinnsuche, die sich zurück in die Hauptstadt sehnen – nach Moskau, wo sie einst wohnten. Realiter hocken sie seit elf Jahren in der Provinz fest – mit einer Stimmungskurve, die sich im steilen Sinkflug befindet.
Dieses Provinz-Problem haben GlossyPains "Sistas!" schon mal nicht: Olivia, wie die älteste Schwester hier heißt, bewohnt einen geräumigen Altbau in Zehlendorf, (West-)Berlins Villenviertel. Und auch die Lebenssinnsuche sieht in diesem Fall anders aus. Die Schwestern sind die Töchter eines US-amerikanischen Gis – das Stück spielt 1994 vor dem Hintergrund des Abzugs der West-Alliierten aus dem 1990 wiedervereinigten Berlin. Allerdings, und darin liegt eine der vielen reizvollen Besonderheiten dieses Abends, führen sie die Debatten von heute – und legen dabei eine extrem hohe Diskursfitness an den Tag. In klug-gewitzten Dialogen verorten sie sich immer neu – als Akademikerinnen, als Künstlerinnen, als People of Colour, als Frauen und, last but not least, als Individuen – und zwar jede auf ihre ureigene Art. Die schwesterlichen Dialoge und Selbstbefragungen fangen hier an dem Punkt, an dem sie in vielen anderen Theaterstücken bereits aufhören, überhaupt erst an: Masha, Olivia und Ivy sind emanzipiert – und befleißigen sich gegebenenfalls trotzdem eines finanziell stabilisierenden Paarungsverhaltens. Sie sind klassismusbewusst – und dennoch nicht frei von Ressentiment-Anflügen. Anders als bei Tschechow lebt auch ihr Vater noch, von dem sie sich tendenziell im Stich gelassen fühlen – und den sie trotzdem lieben. Und weil hier eben alle tief in ihre eigenen Verblendungszusammenhänge schauen, ist die Welt bei "Sistas!" genauso komplex wie bei Tschechow, nur gegenwärtiger – und das Theater ähnlich kompliziert wie das Leben. Kurzum: Ein Bühnen-Glücksfall.
Hinter dem Kollektiv GlossyPain verbergen sich namentlich Isabelle Redfern und Katharina Stoll. "Wir haben uns an der Berliner Schaubühne kennengelernt – Isabelle als Schauspielerin und ich als Regieassistentin", erzählt Stoll beim Gespräch in ihrem Wohnzimmer, das gleichzeitig als Label-Zentrale fungiert: Hier haben auch die Leseproben zu "Sistas!" stattgefunden. "Dann waren wir beide relativ schnell selbstständig" berichtet Stoll weiter und lacht – "und haben unser Kollektiv gegründet". Selbst inszeniert hatten zuvor zwar beide schon, aber "Sistas!" ist die erste Produktion, in der sie als Ko-Regisseurinnen zusammenarbeiteten.
Die Stoffwahl sei schnell klar gewesen: Abgesehen davon, dass die "Drei Schwestern", so Redfern, ohnehin hervorragend nach Berlin passten mit ihrem großen Fragenbündel – "Wo will ich hin? Was ist dieser Sehnsuchtsort? Was mache ich aus meinem Leben? Wie weit beeinflusst die Überfigur des Vaters das eigene Wesen?" –, stoßen sich die Regisseurinnen ja von einem sehr konkreten inhaltlichen Aspekt der Vorlage ab: Sowohl bei Tschechows "Drei Schwestern" als auch bei ihren "Sistas" ist es der Abzug des Militärs, der den Ausgangspunkt für gravierende Lebens- oder zumindest Befindlichkeitsveränderungen bildet. "Die Parallele funktioniert gut, weil die Schwestern als Töchter eines amerikanischen GIs und einer deutschen Mutter bei uns in einen deutschen Kontext gerückt und zum Aufhänger für Rassismusdebatten werden – wie überhaupt für ein breites Spektrum an Diskursen", erklärt Stoll.
Inwiefern die Spieler:innen sich mit der Art, wie die Diskurse über Identität und Rassismus geführt werden, identifizieren, sprich: ob sie zu den Behauptungen ihrer jeweiligen Figuren stehen können, sei während des Probenprozesses natürlich eine zentrale Frage gewesen, bestätigt Isabelle Redfern: "Ich hatte zum Beispiel Sorge, dass es wegen unseres Regie-Humors zu Konflikten kommt, weil eine Spielerin sagt: Das finde ich jetzt affig. Oder: Das geht mir zu weit, das will ich gern anders sagen." In solchen Fällen sei das Skript zur Überarbeitung an die Autorin zurückgegangen, die dann problemlos noch einmal am Feintuning geschraubt habe.
Moment: Autorin? Handelt es sich bei "Sistas!" nicht um ein genuines Textprodukt der Marke GlossyPain? Auf dem Programmzettel steht eine gewisse "Golda Barton" als Verfasserin des Stücktextes: eine insofern mysteriöse Erscheinung, als sie öffentlich nicht in Erscheinung zu treten pflegt. Es handele sich halt einfach um einen besonders hartnäckigen Fall von Scheu, wiegeln Stoll und Redfern ab. Kein Wunder: Golda Bartons Kurzvita auf der Website des Henschel-Verlags, in dem "Sistas!" erschienen ist, liest sich nämlich so, als hätte ihn sich eine besonders humorbegabte Comedienne auf einem überdurchschnittlich inspirierenden Trip ausgedacht. Nach der frühkindlichen Entdeckung ihrer "Leidenschaft für die Schlüsselharfe" habe Golda Barton neben dem Studium des "Glockenspiels" auch einen Master in "intuitiv vergleichenden Sexualwissenschaften" absolviert und sei inzwischen als Gastprofessorin an der "Internationalen Hochschule für Bikeballett und Ballettdesign" in Istanbul tätig, steht dort zu lesen; aktueller Forschungsschwerpunkt: "Fluide Auffangbecken und Beckenböden im patriarchalen Wandel". Der Humor dieser Zeilen ähnelt verdächtig demjenigen, den Stoll und Redfern auch in unserem Gespräch versprühen – und der natürlich über die kompletten neunzig "Sistas!"-Minuten hinweg erfreut. Aber das Duo bleibt standhaft: Nein, Golda Barton sei eine externe Autorin, hinter ihr verberge sich kein Kollektiv-Pseudonym von GlossyPain.
Ist ja letztlich auch egal, welcher Name außen draufsteht, der Abend jedenfalls ist großartig – also zurück Humor: "Humor ist für mich der Rettungsweg aus unterdrückenden Strukturen", sagt Katharina Stoll. "Außerdem empfinde ich Spaß an der Arbeit als etwas sehr Empowerndes." – "Ich glaube, dass man mit einem didaktischen Ansatz auch nicht sehr weit kommt", ergänzt Isabelle Redfern. "Wenn ich den Zuschauer:innen, die mit der Thematik selbst vielleicht gar nicht so zu tun haben, die Hand reiche statt zu sagen: `Ihr seid schuld, ihr mach etwas falsch´, sind sie viel eher bereit zuzuhören." Redfern glaubt, dass darin einer der wesentlichen Gründe für den immensen Erfolg des dauerausverkauften Abends liegt: "Menschen mit Rassismuserfahrungen sagen: Endlich sind wir mal nicht die Opfer! Und Menschen, die wenig mit dem Thema zu tun haben, denken: Endlich kommen mal nicht nur Vorwürfe, sondern ich darf auch lachen."
Eine zentrale künstlerische Strategie des Abends besteht darin, Stereotype und Zuschreibungen als Ausgangspunkt zu nehmen – und sie auf der Bühne nach allen Regeln der Theaterkunst zu zerlegen – mit Verve, Witz und klugem Charme. "Ich glaube, dass jeder Mensch Vorurteile hat – jeder!", sagt Isabelle Redfern. "Und jetzt leben wir in einer Zeit, in der es wichtig ist, sich auch mal darüber bewusst zu werden, was für Klischeevorstellungen man voneinander im Kopf hat und ob man die auch einfach so äußern darf. Die Schwestern reden ja so, weil sie unter sich sind." Und angesichts dessen, was sie alles reden, drängt sich spontan eine Frage auf: Gab es während der Proben eigentlich Momente, in denen die Regisseurinnen – oder zumindest eine von ihnen – gerufen hat: Stop, das geht mir jetzt zu weit? Kollektives Gelächter in der GlossyPain-Zentrale. "Na klar!", ruft Katharina Stoll. "In der Szene mit MING – die ich hier jetzt keinesfalls spoilere – saß ich mit meiner white fragility auf den Proben und dachte immer nur: Oh, Gott, das geht doch nicht, das können wir doch nicht zeigen!" – "Ja", fällt Redfern ein, "da musste ich Katharina mal kurz rausschicken und ihr sagen: MING und ich, wir erarbeiten hier jetzt das "asiatische Token", und wir bedienen alle Klischees. MING hatte einen derartigen Spaß daran, dass uns immer neue und noch krassere Sachen einfielen, während Katharina nur kopfschüttelnd in der Ecke saß." Aber klar, ergänzt sie schließlich: "Das war natürlich schon eine Angst, ob wir ein Ensemble finden, das damit okay ist. Es gab auch ein paar Ecken, an denen wir wirklich überlegen mussten: Wie weit gehen wir hier, sagen wir das jetzt noch?" Entschieden hätten das letztlich immer die betreffenden Spieler:innen; jede für sich.
Dass hier Figuren mit hochsympathischen (Selbst-)Widersprüchen zu erleben sind, macht die große Komplexität und Anschlussfähigkeit des Abends aus. Nehmen wir zum Beispiel – um nur eine zentrale Figur herauszugreifen – die hyperkluge Studentin Masha, die sämtliche Feminismus-Diskurse in- und auswendig kennt, gerade auf einen sehr inspirierenden Michael getroffen ist und am Ende trotzdem beim "linken Macho" und "Möchtegern-Trotzkisten" Joachim bleibt – mit den schwäbischen Häusle-Besitzer-Eltern im Berliner Osten.
"Bei dieser Figur tauchte während der Proben durchaus die Frage auf, ob das nicht zu reaktionär sei", erzählt Isabelle Redfern. "Das Lustige ist aber: Auf der einen Seite bedient sie natürlich ein totales Klischee, indem sie sich von einem Mann aushalten lässt, aber auf der anderen ist sie eben auch vollkommen differenziert in diesem Punkt – und außerdem emanzipiert genug, eine offene Beziehung zu führen und zu sagen: Mit dem einen will ich das Kind, und der andere füttert mich durch." Masha sei, mit anderen Worten, "eigentlich voll cool – und gleichzeitig überhaupt nicht." – "Und genau das ist eben an allen Figuren das Interessante", fällt Stoll ein: "Dass jede in sich so widersprüchlich ist" – eine Eigenschaft, die ja auch die Zeitgenoss:innen im wahren Leben erst spannend mache.
Wenn einer das Arschloch ist und man sich an ihm abarbeiten muss, wird es lustig oder spannend oder beides.
Andererseits sind widersprüchliche Charaktere alles andere als konkurrenzlos in der Gegenwartsdramatik. Gerade in feministischen Überschreibungen existiert eine Tendenz, weibliche Figuren gleichsam schwächenfrei darzustellen: So schlägt – mit besten Absichten, aber dennoch dramatisch undramatischen Folgen – das weibliche Negativklischee, das man im Dramenkanon oft zurecht anprangert, in ein ebensowenig überzeugendes und im Übrigen auch sehr langweiliges Positivklischee um.
"Ich beobachte im Theater in letzter Zeit öfter, dass es um ein spannendes oder ein aktuelles Thema geht – zum Beispiel Geldverteilung in der Gesellschaft oder Umweltschutz – und die Figuren aber alle die gleiche Meinung vertreten", sagt Redfern. "Man ist sich in einer Weise einig, dass der Abend eher wie eine agitative Behauptung wirkt oder wie eine Ansprache. Aber es gibt keinen Konflikt – und der Konflikt ist ja das eigentlich Interessante auf der Bühne: Wenn einer das Arschloch ist und man sich an ihm abarbeiten muss, wird es lustig oder spannend oder beides. Dann entsteht Dialog. Das vermisse ich inzwischen manchmal im Theater – und frage mich: Aber wo ist denn jetzt der Widerspruch?"
Mehr zur Autorin
Christine Wahl ist Theaterkritikerin und Mitglied der "Radikal-Jung"-Jury. Sie studierte Germanistik, Philosophie und Soziologie in Freiburg und Berlin und arbeitet seit 1995 als freie Autorin u. a. für den Tagesspiegel, Theater heute und den Spiegel. Von 2020 bis 2021 war sie Redakteurin bei "Theater der Zeit", seit 2022 ist sie Mitglied der nachtkritik-Redaktion. Als Jurorin war sie u. a. für das Berliner Theatertreffen, den Hauptstadtkulturfonds, den Kranichsteiner Literaturpreis, den Berliner Senat und das Festival "Impulse" tätig und gehört aktuell dem Auswahlgremium der Mülheimer Theatertage "Stücke" an.