"Gefangen von unserer Zeit und dem Zustand der Welt"
Datum
Interview: Hannah Mey
Ihr bekamt den Auftrag, einen Text zu Erich Kästners "Fabian oder: Der Gang vor die Hunde" zu schreiben. Wie seid ihr dem Roman begegnet?
Maryna Smilianets: Ich hatte zuvor noch nie von dem Roman gehört, aber habe ihn dann in einem Atemzug gelesen. Kästners Beschreibungen der Stadt und ihrer Architektur erinnerten mich an meinen Besuch in Berlin wenige Wochen vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine. Eine Zeit lang dachte ich, diese Reise nach Berlin wäre meine letzte gewesen.
Viktor Martinowitsch: Ich hatte den Roman auch noch nicht gelesen. Aber als ich ihn las, musste ich sofort an das Genre des Bildungsromans denken. Eine Handlung für meinen eigenen Text zu finden, war gar nicht leicht, da "Fabian" in sich sehr geschlossen wirkt. Da der Roman die Ahnung eines kommenden Krieges behandelt, kam mir schließlich der Gedanke, dass ich etwas über den Krieg, der aktuell stattfindet, schreiben sollte. Ich wollte das Phänomen des Kriegs ansprechen und zeigen, was es mit Menschen macht.
Arna Aley: Ich war sehr glücklich, als ich den Anruf bekam, ob ich einen Text zu "Fabian" schreiben möchte. Ich bin dem Roman bisher immer ausgewichen, hatte aber viel über ihn gehört, vor allem durch Übersetzer-Kolleg*innen, die von dem Roman geschwärmt haben. Es dauerte jedoch, bis mir der Einstieg in den Roman gelang. Den Impuls zum Schreiben entnahm ich schließlich Fabians Traum, den Kästner ungefähr zur Mitte des Romans platziert hat. Grundsätzlich erschien mir Kästners Text sehr didaktisch. Seine Figuren werden nur bis zur Hälfte gezeigt mit dem Fokus auf das Gute im Menschen, während die Abgründe ausgelagert werden – in diesen Traum. Aber warum trennt man den Menschen von seinen Abgründen? Aus der Empörung über den Traum heraus begann ich, meinen Text zu entwickeln.
Die Hölle sind wir.
Welches Verhältnis zur Figur Fabian habt ihr während der Beschäftigung mit ihm entwickelt?
Maryna Smilianets: Ich habe mit der Figur des Fabian sympathisiert. Es war schmerzhaft mitzuerleben, wie sein Leben zerstört wird. Wir sind gleich alt, ich habe auch einen engen Freund verloren und kann seine Erfahrung der unerwiderten Liebe nachvollziehen. Ich habe ein paar kurze Absätze aus dem Roman genommen, an denen ich emotional einhaken konnte. Die persönlichen Gedanken und Erinnerungen, die dadurch hervorgerufen wurden, habe ich aufgeschrieben.
Viktor Martinowitsch: Eine der einprägsamsten Szenen aus dem Roman ist für mich, als Fabian in einen Streit zwischen einem Nazi und einem Kommunisten gerät. Ihr Streit endet blutig, sie schießen aufeinander. Doch was macht Fabian? Er bezieht keinerlei Stellung. Er hat zwar offensichtlich eine politische Haltung, doch diese Szene zeigt: Er ist nur ein Beobachter, erschrocken und gelähmt von der Absurdität des Berlins der Zwischenkriegszeit, in dem er gefangen ist. Mit meinem Text wollte ich diesen Menschentypus hervorheben. Auch ich fühle mich gefangen von unserer Zeit und dem Zustand der Welt, das hat mich mit ihm sympathisieren lassen. Das zweite, was mich an Fabian beeindruckt hat, war sein Versuch, menschlich zu bleiben – ein Mensch zu bleiben unter den unmenschlichen Bedingungen eines nahenden Krieges.
Arna Aley: Ich habe Fabian eher als Träger einer Funktion oder Überbringer einer Botschaft empfunden, als eine lebendige Figur aus Fleisch und Blut. In meinem Text habe ich versucht, die zweite Hälfte von Fabian zu erschaffen – abwärts des Gürtels. Der Mensch ist nicht nur Kopf und Entscheidungen, sondern auch Fleisch und Begierden. Auch der seelische Abgrund ist ein fester Bestandteil des menschlichen Daseins. "Die Hölle sind wir". Ich sehe meine Aufgabe als Autorin, den Deckel zur Hölle zu öffnen und hineinzuschauen, um die seelischen Wunden ans Licht zu holen. Mit Bio-Bambuspflaster lassen sich die Risse des Höllen-Deckels nicht zukleben.
In welcher Relation stehen die Figuren in euren Texten zu Kästners Fabian?
Viktor Martinowitsch: Wir leben in einer Zeit, in der die Menschen nicht einfach ihr eigenes Leben leben, sondern immer auch Zeitzeugen eines Jahrhunderts sind, die Beweise sammeln, um erzählen zu können, was passiert ist. Denselben Eindruck hatte ich in Bezug auf Fabian. Diese Beobachtungen über ihn wollte ich in meinem Text in eine zeitgenössische Umgebung versetzen. Es geht bei mir nicht um das Berlin der Zwischenkriegszeit, sondern um das heutige Berlin. Aber die Beziehung meiner Figuren zur Realität ist vergleichbar mit der zwischen Fabian und seiner Welt.
Arna Aley: Mein Text ist eigentlich eine hyperrealistische Darstellung einer Situation, die ich selbst im Zug erlebt habe. Da ich aber wusste, dass mein Text ein Teil der Inszenierung "Fabian" von Kästner sein wird, habe ich zwischen den von mir beobachteten realen Figuren und den Figuren von Kästner Brücken gebaut. Was mich daran, etwas in Bezug auf Kästners Roman zu schreiben interessiert hat, war ähnliche Figuren und Situationen in der heutigen Zeit zu beobachten und über sie nachzudenken.
Maryna Smilianets: In meinem Text gibt es gar keine Figuren. Es geht um mich oder andere reale Personen. Ich hatte das Gefühl, dass ich mir keine Figuren ausdenken muss, denn meine persönliche Erfahrung ist der ehrlichste Weg. Ich habe jetzt eine Möglichkeit, in Stuttgart zu leben, da das Theater mich als "artist in residence" beschäftigt. Dafür bin ich sehr dankbar, ich kann in Sicherheit schreiben. Aber natürlich zieht es mich oft nach Hause, nach Kiew. Meine Familie ist noch da, da sie sich weigern, zu gehen und ich habe im Sommer zwei Monate dort verbracht. Es gab Nächte, als die Russen uns so schwer bombardierten, dass ich auf dem Flur schlief. Da musste ich an diese Texte denken, daher sind sie so geschrieben.
Ich will, dass sich die Welt verantwortlich fühlt.
Fabian sagt zu seinem Freund Labude: "Der Untergang Europas ist unaufhaltsam." Wie kann man diesen Satz heute verstehen?
Maryna Smilianets: Das größte Problem in Europa, das ich gerade sehe, sind die wahnsinnig langsamen Entscheidungsfindungen. Das ist die größte Gefahr. Europa muss sich beeilen, um zu überleben. Wir haben keine Zeit. Ich will, dass sich die Welt verantwortlich fühlt. Das ist nicht nur unser Krieg. Ich bin empört, dass wir so lange gezwungen waren, der russischen Aggression allein gegenüberzustehen. Wir haben zu lange auf Hilfe warten müssen. Deswegen wird es jetzt immer schwieriger, unser Land von den Besatzern zu befreien. Deshalb findet sich viel Verzweiflung in meinem Text. Wie konnte es so weit kommen? Die Frage führt nirgendwo hin, es gibt keine Antwort. Aber alle sollten sich bewusst sein, dass wir immer noch für unsere Unabhängigkeit und die Möglichkeit, Teil der Europäischen Union zu werden, kämpfen. Die Welt sollte jede Anstrengung auf sich nehmen, uns zu retten und zu helfen. Bis wir diesen schrecklichen Krieg beendet haben, darf niemand müde werden.
Viktor Martinowitsch: Als ich vor 20 Jahren das Wort "Europa" hörte, wusste ich sofort, was es bedeutet. Aber jetzt nach allem was passiert ist, dem Brexit, der langsamen Unterstützung der Ukraine – was bedeutet es da, "europäisch" zu sein? Geht es um Geographie? Nein. Es ging immer um eine Idee, doch die verschwindet zunehmend. Ich denke, dass dies der Grund für die langsamen Entscheidungen ist. Niemand weiß mehr, was es bedeutet, im Namen Europas zu handeln. Wir müssen wieder zu einer Idee, was Europa wirklich bedeutet, zurückkommen. Da geht es nicht um Geographie oder Ethnizität, sondern um Werte. Wenn wir uns diese genauer anschauen, wird deutlich, dass die meisten europäischen Länder unterschiedliche Blickwinkel auf diese Werte haben, sie unterschiedlich interpretieren. Vielleicht können wir durch die Kunst ein neues Set an europäischen Werten aufstellen.
Arna Aley: Fabian ist kein Held. Und in der heutigen Zeit verhalten wir uns genauso wie er. Wir tun nichts. Wir bedauern, aber wir tun nichts, um etwas zu verändern und das ist vielleicht die einzige Ähnlichkeit zwischen dem Roman und der heutigen Zeit. Denn die Umstände sind schon anders. Auch die Stimmung ist anders als in der Weimarer Republik. Aber was geblieben ist: Wir tun nichts. Inzwischen haben wir uns in Schweigen gehüllt.
Meine Rolle als Autor ist, die Menschlichkeit zu behalten.
Wie nehmt ihr ganz aktuell die Aufgabe von Schriftsteller*innen und den Handlungsspielraum des künstlerischen Schreibens wahr?
Maryna Smilianets: Mein Glaube an die Kraft der Kunst hat sich in den vergangenen eineinhalb Jahren mehrfach verändert. Wenn eine Rakete auf deinem Grundstück einschlägt – dann rettet die Kunst dich sicherlich nicht. Aber wenn das Leben weitergeht, dann realisiert man, dass man etwas tun muss, um seinen Lieben und seinem Land zu helfen. Für fast ein Jahr wollte ich keine Performances oder Filme schauen, später habe ich es umso mehr gebraucht. Jetzt glaube ich an die therapeutische Kraft von Kunst, die mir hilft, nicht verrückt zu werden. Es gibt außerdem auch sehr praktische Vorteile: Man kann nach einem Stück Geld sammeln, um die Ukraine zu unterstützen oder jemandem zu helfen, der medizinische Versorgung braucht. Zu Beginn habe ich mal den Begriff "cultural front" genutzt, weil ich glauben wollte, dass ich etwas sehr Wichtiges tue. Jetzt lehne ich diese Bezeichnung ab, da es nur eine Front gibt und die ist im Krieg. Soldaten sterben in diesem Moment für unsere Freiheit. Das kann man nicht damit vergleichen, Stücke zu schreiben. Ich bin kein "cultural soldier", ich mache einfach was ich kann, in der Hoffnung, dass es irgendwie jemandem helfen kann.
Arna Aley: Mein erster Gedanke beim Ausbruch des Krieges war auch, dass das letzte, worum wir uns jetzt Gedanken machen müssen, die Kunst ist. Man muss zunächst einmal den Menschen und sich selbst helfen, die Realität wahrnehmen und nicht vor der Realität flüchten. Wenn draußen der Krieg tobt, muss ich nicht ins Theater gehen, um mich mit dem Thema "Krieg" auseinanderzusetzen. Über ein Jahr lang war ich raus aus meinem Beruf, weil ich ihn für nicht mehr sinnvoll hielt. Jetzt in dieser neuen Phase, in der es wieder einen neuen Krieg gibt – und wahrscheinlich wird es auch nicht so schnell anders werden – denke ich viel darüber nach, was wäre, wenn es die Pandemie – und mit ihr diese Kunstpause – nicht gegeben hätte. Und wir der Möglichkeit nicht beraubt gewesen wären, unsere dunklen Seiten in der Kunst auszuleben, uns mit ihnen zu beschäftigen und uns dadurch von ihnen zu befreien. Als es diese Möglichkeit in der Pandemie nicht gab, konnte man an sich selbst beobachten, wie in dieser Einsamkeit die innere Hölle aufkommt und wie viel an negativer Energie und Hass in einem schlummert – um nicht zu sagen in der ganzen Welt, schließlich war es ein Weltereignis. Wenn es dieses Ventil Kunst gegeben hätte, hätten wir vielleicht die Möglichkeit gehabt, dass diese Kriege nicht ausgebrochen wären. Das ist natürlich eine Utopie, aber irgendwie glaube ich mittlerweile daran. Deshalb achte ich beim Schreiben darauf, gnadenlos ehrlich zu sein, die Realität zu sezieren, anstatt sie zu verhüllen. Die Kunst muss es schaffen, mit der Realität Hand in Hand zu gehen und diesen aggressiven Teil, diese Hölle des Menschen, aufzufangen.
Viktor Martinowitsch: Mit dem Schreibauftrag an uns wurden Personen aus drei verschiedenen Teilen der Welt gefragt – nein, eigentlich aus drei unterschiedlichen Welten. Eine Person aus Belarus, eine andere aus dem Krieg und wiederum eine andere aus dem wohlhabenden intellektuellen Litauen. In all diesen Welten bedeutet die Rolle der Schreibenden etwas anderes. Der Preis, den wir zahlen, ist unterschiedlich. Denn wenn man etwas schreibt inmitten einer Stadt, die sich im Krieg befindet, in der jeden Tag Raketen vom Himmel fallen – und man trotzdem Theater macht, wie Maryna es berichtet – dann zahlt man einen hohen Preis für seine Arbeit. Und wenn man aus einer Gesellschaft wie der, aus der ich komme, schreibt, dann fühlt man physisch die Last eines jeden Wortes. Zu guter Letzt ist die Rolle und Bedeutung von Kunst, Literatur und Theater, den Menschen das Geschenk des gegenseitigen Verständnisses wiederzugeben, das uns vom Krieg genommen wird. Mein Text möchte das gegenseitige Verständnis wieder zurückgeben. Meine Rolle als Autor ist, die Menschlichkeit zu behalten.
Maryna Smilianets: Dem möchte ich etwas hinzufügen. Die Menschen gehen in Kiew jetzt mehr ins Theater als vor dem Krieg. Vor zwei Wochen haben wir eine zweite Bühne in dem Theater, in dem ich arbeite, eröffnet, denn eine Bühne war nicht mehr genug. Die Menschen brauchen sie. Und auch die Einstellung hat sich geändert: Wenn die Menschen früher ins Theater gekommen sind, haben sie kritisch betrachtet, was sie dort sahen, jetzt sind sie einfach froh, weil es funktioniert: Wir haben Kultur, wir haben Theater, sie laufen – kurz: Wir sind am Leben. Die Menschen in der Ukraine brauchen das Theater gerade sehr.
"Fabian oder: Der Gang vor die Hunde" von Erich Kästner mit Texten von Arna Aley, Viktor Martinowitsch und Maryna Smilianets in der Regie von Philipp Arnold ist ab 25. November 2023 im Münchner Volkstheater zu sehen.