Portrait von Jens Hillje

"Ein Festival ist ein Geschenk an die Stadt und ihr Theaterpublikum."

Am 19. April startet die 18. Ausgabe von "Radikal jung". Festivalleiter Jens Hillje erzählt im Interview, was das Publikum bei der diesjährigen Festivalausgabe erwartet.

Interview: Tobias Obermeier

Was beschäftigt das junge Theater derzeit?
Jens Hillje: Vor allem die allgemeine politische Situation und die starke Polarisierung. Es gibt sehr viel Streit und Unsicherheit in der Gesellschaft. Das Theater beschäftigt sich damit, wie man mit den sich daraus ergebenden Fragen politisch umgeht. Widerständigkeit ist daher ein großes Thema in den interessanten Arbeiten der vergangenen Saison.

Der Fokus in der Programmauswahl lag also auf politischen Produktionen?
Einerseits haben wir danach geschaut, andererseits sind sie uns auch entgegengekommen. Man schaut sich sehr viele Inszenierungen an. Man schaut, was ist interessant, wo steckt eine ästhetische Kraft drin. Wo steckt der Wille drin, sich mitzuteilen. Was sind Arbeiten, die das Publikum fordern, ihm aber auch was schenken?

Doktormutter Faust (c) Birgit Hupfeld

Welche sind das konkret?

Das Festival wird eröffnet und geschlossen mit zwei starken Inszenierungen von starken Frauen. Eröffnet wird mit "Doktormutter Faust" vom Schauspiel Essen, in der Regie von Selen Kara und geschrieben von Fatma Aydemir. Das ist eine Neuinterpretation des Faust-Mythos und die versucht sich in einer post-postmigrantischen Perspektive im deutschen Stadttheater. Das Motto der neuen Intendanz in Essen ist ja "Neues Deutsches Theater – under construction".

Das ist eine Erfahrung des Zuschauens, wie sie nur in der Kunst möglich ist.

Mit welcher Inszenierung wird das Festival abgeschlossen?

Mit "The Cadela Força Trilogy" von Carolina Bianchi. Das ist eine extreme Performance, die sich mit Femizid beschäftigt und nicht nur die Form einer Performance an die Grenze bringt, sondern auch das Publikum. Denn Bianchi nimmt einen Cocktail aus K.O.-Tropfen und verliert auf der Bühne das Bewusstsein. Das ist eine Erfahrung des Zuschauens, wie sie nur in der Kunst möglich ist. Also eine unmittelbare, emotionale und erschütternde Erfahrung der Zeug*innenschaft, die aber im gesicherten künstlerischen Raum eines Theaters stattfindet.



Gibt es abseits davon einen ästhetischen Trend, den du ausmachen kannst
?


Die Eröffnung ist deutsches Stadttheater at its best und die Inszenierung von Carolina Bianchi ist formal-radikal. Das Gegenteil davon. Das heißt, wir haben ein breites Spektrum an unterschiedlichen Formen und Sprachen. Diese Heterogenität versucht das Festival einzuladen und abzubilden. Den einen Trend gibt es nicht.

"Das Kraftwerk - Ein Theaterabend über Kohle, Wasser und die Ewigkeit" (c) Bernd Schönberger

Welche Formen gibt es noch?

Wir schauen nach ästhetisch starken und gesellschaftlich relevanten Arbeiten. In "Die Gerächten" von Murat Dikenci vom Theater Dortmund geht es um die Spekulation über postmigrantischen Widerstand. Wie geht man mit Terror um, der sich gegen rechten Terror richtet. Ein Gedankenspiel, das auf immersive Weise mit dem Publikum verhandelt wird. "Das Kraftwerk - Ein Theaterabend über Kohle, Wasser und die Ewigkeit" aus Cottbus ist ein investigatives Recherche-Stück. Es geht um einen lokalen Politikskandal, Umwelt und Korruption. Ein sehr unterhaltsames, aber aggressives Volkstheater, das tatsächlich zu Reaktionen aus der Politik geführt hat. Man sieht hier sehr gut, wie Theater Teil einer demokratischen Gesellschaft sein kann.

Letztes Jahr lag die Auslastung von Radikal Jung bei 96 Prozent. Gleichzeitig hört man immer wieder vom Überdruss der Menschen, was die Krisen unserer Zeit angeht. Wie passt es zusammen, dass das Publikum trotzdem Lust auf diese inhaltlichen Herausforderungen hat?

In der Kunst und im Erzählen von Widerständigkeit steckt ein Erleben von Wirksamkeit, von neuer Energie und von neuer Hoffnung - anders als in der politischen Auseinandersetzung. Darin steckt die Möglichkeit, das eigene Denken und Sehen zu verändern. Das ist die Wirksamkeit von Theater.

Das ist die Wirksamkeit von Theater.

Rührt die Attraktivität des Festivals nicht auch daher, dass das Publikum nicht reisen muss, um sich all die Inszenierungen anzuschauen?

Ein Festival ist ein Geschenk an die Stadt und ihr Theaterpublikum. Der Austausch dabei ist die wichtige zweite Hälfte eines Theaterabends. Wenn man gemeinsam feiert und anfängt, miteinander zu sprechen, sich vielleicht auch streitet. Das ist das Besondere an einem Festival im Gegensatz zum normalen Theaterbetrieb.

Wie wichtig ist das Rahmenprogramm als Ort des Austauschs?

Die Veranstaltung "A New Hope" bringt das ganz gut auf den Punkt. Sie versammelt Protagonist*innen aus zivilgesellschaftlichen Bewegungen, die zwischen Politik und Kunst einiges bewegen. Wie Jean Peters, der das Peng! Kollektiv mit gegründet und mit Correctiv die rechtsextreme Konferenz in Potsdam aufgedeckt hat. In diesem Bereich tun sich gerade gesellschaftliche Akteure mit Künstler*innen zusammen, die dadurch eine ganz wichtige Arbeit bei der Verteidigung der Demokratie leisten.

Dieses Jahr gibt es wieder einige internationale Produktionen im Programm. Inwiefern ist der Austausch über die Ländergrenzen hinweg wichtig?

Dadurch holen wir nochmal besonders ästhetisch-radikale Inspiration aus anderen Theaterwelten in den deutschsprachigen Raum. Wie mit "Goodbye, Lindita", eine Performance über Tod und Sterben aus Griechenland. Ganz ohne Worte, aber mit einer unglaublichen Schönheit auf der Bühne. Oder "À la Carte" aus Dänemark, eine sehr stark von Strukturen der neuen Musik geprägte Produktion. Mit "Up your Ass" gibt es auch eine trashige, sehr laute, bunte und spielerische Arbeit aus den Niederlanden.